Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach

Originaltitel
En duva satt på en gren och funderade på tillvaron
Jahr
2014
Laufzeit
100 min
Release Date
Bewertung
8
8/10
von René Loch / 27. November 2014

Das 1565 entstandene Gemälde „Die Jäger im Schnee“ von Peter Bruegel dem Älteren hat es in der Filmgeschichte zu einiger Berühmtheit gebracht. Mehrfach fand es bei Andrei Tarkowski Verwendung und zuletzt – im lodernden Zustand – auch im Intro von Lars von Triers „Melancholia“. Der schwedische Regisseur Roy Andersson („Songs from the Second Floor“) hat sich nun von einem speziellen Aspekt des Bildes inspirieren lassen: den auf den Ästen der Bäume sitzenden Vögeln, die sich – so vermutet es Andersson – über das Treiben der Menschen wundern. Im erst fünften Spielfilm des 71-Jährigen, dessen Debüt immerhin schon über 40 Jahre zurückliegt, ist es eine Taube, die auf einem Zweig sitzt. Dabei denkt sie über das Leben nach.
Dieses Leben präsentiert sich ihr in exakt 39 Szenen, die aus nur geringfügig mehr Kameraeinstellungen und Schnitten bestehen. Ist es in der ersten Szene noch die Taube selbst, die ausgestopft in einem Museum das Objekt des Betrachters darstellt, schlüpft sie am Ende, wenn sie sich erstmals akustisch bemerkbar macht, in die Beobachterrolle. In den 37 dazwischen liegenden Szenen kommt es zunächst zu drei grotesken „Begegnungen mit dem Tod“, bevor erstmals eine Art roter Faden zu erkennen ist.

Die beiden Scherzartikelverkäufer Sam und Jonathan (deren Darsteller Holger Andersson und Nils Westblom exakt einen Film in der Vita stehen haben: Roy Anderssons Vorgängerfilm „Das jüngste Gewitter“) führen kein glückliches Leben. Tagein tagaus versuchen sie sich daran, Vampirzähne, Lachsack und Monstermaske unter die Leute zu bringen, jedoch mit bescheidenem Erfolg. Dass sie selbst wenig von ihren Produkten halten, ist bei den Gesprächen wohl kaum förderlich. Doch auch die anderen Menschen in ihrer Umgebung sind nicht vom Glück verfolgt: Eine Flamencolehrerin wird von ihrem Schüler abgewiesen, ein Vorstandsvorsitzender steht kurz davor sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, ein ehemaliger Schiffskapitän wird ständig von einer Bekanntschaft versetzt und die Armee von König Karl XII. muss eine vernichtende Niederlage gegen Russland einstecken – und dann ist auch noch das Klo besetzt. Zwischendurch sind immer wieder Leute beim Telefonieren zu beobachten, deren Gespräche einzig aus dem ständig wiederkehrenden Satz „Schön zu hören, dass es dir gut geht“ bestehen.

Sieben Jahre nach „Das jüngste Gewitter“ und weitere sieben Jahre nach „Songs from the Second Floor“ markiert „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ den Abschluss der inoffiziellen „Trilogie über das Menschsein“ von Roy Andersson. Sollte sich das Menschsein in den Augen der Tauben tatsächlich so darstellen wie in diesem Film, dann ist es wohl kein Wunder, dass sie uns in manchen Großstädten mehrere hundert Tonnen Kot pro Jahr hinterlassen. Hier ist der Mensch ein ziemlich jämmerliches Wesen: phlegmatisch, dröge, abgestumpft und unfähig, zu kommunizieren, Mitgefühl zu entwickeln und sich solidarisch mit anderen zu zeigen. All diese Eigenschaft scheinen für Andersson allerdings nicht in der Natur des Menschen zu liegen, sondern eher eine Begleiterscheinung verschiedener, nicht nur moderner, Gesellschaftsformen zu sein. Erniedrigung und (erzwungene) Autoritätshörigkeit gehören darin zum Alltag vieler Menschen. Seine Filme versteht Andersson daher auch als „eine Art Blasphemie gegenüber der Geschichte der herrschenden Klassen“.
Eine Szene, die 1943, also im Geburtsjahr des Regisseurs, spielt, zeigt ausnahmsweise einen anderen, optimistischeren Grundton: Eine Kneipe ist der Schauplatz; hier wird gesungen und der Schnaps mangels Geld mit Küssen bezahlt; die Menschen sind so fröhlich, wie es der Krieg gerade zulässt. In eine plumpe „Früher war alles besser“-Mentalität verfällt Andersson aber nicht. Jenen bedrückenden Moment in „Eine Taube sitzt...“, in dem eine fiktive Gräueltat britischer Kolonialsoldaten zu sehen ist, dürfte er wohl kaum dem Guten im Menschen zurechnen.
Abgesehen von einigen schwer verdaulichen Szenen gegen Ende – dazu zählt auch ein unter Strom gesetzter Affe, während im selben Raum eine Frau, aus dem Fenster schauend, telefoniert („Schön zu hören, dass es dir gut geht“) – ist aber auch dieser Film geprägt vom „Trivialismus“, mit dem Andersson den Stil seiner eigenen Werke beschreibt. Minutenlang sind Menschen beim Nichtstun oder bei vollkommen banalen Tätigkeiten zu beobachten. Dialoge werden auf ein Mindestmaß reduziert und wenn, dann reden die Personen aneinander vorbei. Vieles wirkt surrealistisch und könnte direkt einem Traum entsprungen sein. Doch bei allem geht es ums Wesentliche: um Angst, Liebe, Enttäuschung, Hoffnung, Wut, Freundschaft – eben das Mindeste im Leben eines jeden.

Neben diesen Kernthemen bildet der absurde Humor eine der wenigen weiteren Konstanten in „Eine Taube sitzt...“. Es wird wohl kaum einen Zuschauer geben, dem vor Lachen die Tränen in die Augen schießen, dafür aber sehr viele, die beim Anblick der treffend vereinfacht dargestellten menschlichen Befindlichkeiten ein Dauergrinsen im Gesicht haben werden. In den spärlich eingestreuten Szenen vertrauter Zweisamkeit, in denen Andersson am Deutlichsten den Humanisten in sich erkennen lässt, verwandelt sich das Dauergrinsen auch mal in ein sanftes Lächeln.
Bemerkenswert ist dieser Film aber vor allem wegen der Symbiose aus Inhalt und Form. Andersson ist nicht nur ein präziser Beobachter, sondern auch ein wahrer Künstler. Nahezu jede Szene besteht aus exakt einer Einstellung. Kamerabewegungen existieren nicht, Schnitte dementsprechend fast ausschließlich zwischen den Szenen. Andersson hält beides für Zeitverschwendung. Und tatsächlich würde es hier vom Wesentlichen ablenken: den von kargen Wänden umrahmten und trostlos ausgestatteten Räumen, in deren Mitte sich die verloren wirkenden Protagonisten wiederfinden; Gesichter und Kleidung gleichermaßen verblichen. Selbst ein malerischer Dünenstrand ist hier nur leblose Kulisse. Alles hat seinen fest vorgegebenen Platz und jede Szene wirkt in der Konsequenz wie ein kleines Gemälde. Die Musik beschränkt sich auf wenige traditionelle Lieder in verschiedenen Variationen und mäandert zwischen Nostalgie, Schwermut und Freude.

Das Konzept im Gesamten kann ebenso als anstrengend empfunden werden wie die scheinbar überwiegend beliebige Anordnung der einzelnen Szenen. Und tatsächlich wird wohl kein Mensch Gefallen an diesem Film finden, der Kino nicht auch oder gar vorrangig als Kunstform und nicht bloß als Unterhaltung begreift. Dass „Eine Taube sitzt...“ in Venedig mit dem Goldenen Löwen geehrt wurde, ist daher weder verwunderlich noch zu beanstanden. Etwas bedauerlich ist lediglich, dass die eigentliche Wirkung erst einige Stunden oder gar Tage später einsetzt. Dann, wenn sich die einzelnen Stücke zu einem weitgehend homogenen Ganzen zusammensetzen und sich ein – wohl sehr individuelles – Gefühl dafür einstellt, was Andersson hiermit eigentlich aussagen wollte: über das Menschsein.

Bilder: Copyright

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