Das Dritte Reich, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust haben bereits so viele filmische Aufarbeitungen erfahren, dass man geneigt ist zu glauben, dass die Epoche mittlerweile vollkommen abgegrast ist. Und doch kommt immer wieder mal ein Film daher, der in diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte noch einen Aspekt findet, der noch nicht sattsam abgehandelt ist und sich vor allem lohnt, noch erzählt zu werden. Solch ein Film ist Kilian Riedhofs "Stella. Ein Leben.", der anhand der wahren Geschichte der Jüdin Stella Goldschlag aufzeigt, wie ein Mensch vom Opfer zum Täter werden kann, und sich dank einer furios aufspielenden Hauptdarstellerin und einer temporeichen Inszenierung sehr wohltuend und überzeugend von den gewohnten Standards solcher Historienfilme abhebt.
Zu Beginn lernt man Stella im Jahr 1940 kennen. Der Krieg tobt bereits, ihre Eltern versuchen vergeblich, einen Weg raus aus Deutschland zu ermöglichen, doch Stella lebt im Herzen Berlins noch vor allem für die Jazz- und Swing-Band, in der sie singt, und ihrem großen Traum, in Amerika mit ihrer Musik Karriere zu machen. Natürlich dauert es nicht lange, bis diese weltfremden Ambitionen von der grässlichen Realität eingeholt werden, wie der Film mit einem gnadenlos harten Cut nach einer Viertelstunde deutlich macht. Und je auswegloser und gefährlicher es für Stella wird, den Mächten des Nazi-Regimes und dem Schrecken des Holocaust zu entkommen, desto mehr wandelt sich ihr unbändiger Lebenshunger in einen Überlebenswillen, der Stella immer näher an einen moralischen Abgrund führt.
Was Stella letztendlich tut und wie sehr sie sich der jüdischen Gemeinschaft gegenüber versündigt, ist historisch verbürgt durch die juristischen Verfahren, die später gegen sie angestrengt wurden (und deren Gerichtsprotokolle die Basis für diesen Film waren). So wahr das hier auch alles ist, so heikel ist es natürlich trotzdem für einen deutschen Film, solch eine Figur und solch eine Geschichte ins Zentrum eines Films zu rücken. Dass der Holocaust viele verzweifelte Juden dahin getrieben hat, sich zu Handlangern und Helfershelfern der Nazis machen zu lassen, um irgendwie ihr eigenes Überleben zu sichern, ist ein historischer Aspekt, der schon oft in Filmen am Rande anklang. Aber noch nie wurde er in einem deutschen Spielfilm so zentral zum Hauptthema gemacht.
"Stella. Ein Leben." geht es dabei nicht darum, in irgendeiner Form einen anklagenden Zeigefinger gegen seine Hauptfigur zu erheben und so vielleicht irgendwelche antisemitischen Ressentiments zu bedienen. Viel mehr geht es darum, begreif- und nachvollziehbar zu machen, welcher Weg einen Menschen wie Stella Goldschlag soweit bringen konnte, das zu tun, was sie schließlich getan hat. Nicht ohne Grund steht die Frage "Was hättest du getan?" auf dem Filmplakat. Es ist die Geschichte einer ganz konkreten Person und ihres Charakters, ihrer ganz konkreten Erlebnisse, und zu was die Kombination des einen und des anderen letztlich führt. Dass der unbändige, zutiefst menschliche Wille zu überleben unmenschliche Dinge verlangen kann. Und dass man fürs Überleben manchmal einen sehr hohen Preis bezahlen muss. Weil man sich für den Rest seines Lebens noch selbst in die Augen gucken muss.
Der Film zeichnet diese Entwicklung dabei so fein nach, dass er nicht den Fehler macht, den einen großen Wendepunkt zu konstruieren und zu behaupten, dass dort alles in Stella gekippt ist. Vielmehr geschieht Stellas Wandel im Laufe des Films so schleichend und in sich schlüssig, dass es schwerfällt zu sagen, an welcher Stelle genau sich ihr moralischer Kompass angesichts ihrer extremen Umstände eigentlich so weit verschoben hat, dass es ab dort für sie kein Zurück mehr geben konnte. Es ist ein Merkmal des hervorragenden dramaturgischen Aufbaus des Films (Drehbuch: Regisseur Kilian Riedhof zusammen mit seinen schon bewährten Schreibpartnern Mark Blöbaum und Jan Braren), dass er es seinem Publikum nicht leicht macht, diesen Punkt klar zu definieren. Sondern es so nah an Stella und ihre Entwicklung als Überlebenskämpferin heranholt, dass man sie erst bewundert, dann mit ihr leidet, und dann ganz verstört ist, als Empathie zwangsläufig in Antipathie kippen muss.
Ein solches Unterfangen steht und fällt natürlich mit seiner Hauptdarstellerin, und hier hätte der Film kaum ein größeres Glück haben können. Paula Beer, die für ihre großartigen Schauspielleistungen schon mit diversen Preisen bedacht wurde, beweist hier einmal mehr, dass sie vermutlich Deutschlands beste Schauspielerin unter 30 ist. Ihre Leistung hier ist schlicht grandios, reinstes charismatisches Dynamit und so fein nuanciert, dass sie jeden Aspekt und jeden Wandel einer hochkomplexen und schwierigen Figur mehr als glaubhaft zum Leben erweckt. Da kann es niemanden wundern, wenn mindestens eine weitere Nominierung für den Europäischen Filmpreis (den sie schon einmal gewonnen hat) herausspringt, wenn nicht sogar eine weitere Trophäe.
Kaum weniger beeindruckend als Beers Leistung ist die von Regisseur Kilian Riedhof, der seine Inszenierung ähnlich energisch und getrieben anlegt wie es seine Hauptfigur ist. Harte Schnitte und abrupte Szenenübergänge dominieren hier in einer Konsequenz, die man so von einem Historienfilm schlicht nicht kennt. Das ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig, funktioniert aber ganz hervorragend, um das Erzähltempo hochzuhalten und viel Plot in relativ knapper Zeit umzusetzen. "Stella. Ein Leben." gewinnt dadurch jedenfalls eine ungewöhnliche Dynamik, die entscheidend dazu beiträgt, den Film besonders packend und mitreißend zu machen. In einem Genre, das oft eher von langen, getragenen Szenen lebt, zeugt es von einem gewissen Mut, so gegen den gewohnten Strich zu inszenieren. Ein Wagnis, das sich im Endergebnis definitiv gelohnt hat.
So, wie sich dieser ganze Film definitiv lohnt. In einer Zeit, in der sich faschistisches Gedankengut in Deutschland wieder sehr bedrohlich breitmacht und in einigen Bundesländern tatsächlich droht, Wahlen zu gewinnen, ist ein Film wie dieser eine wichtige Erinnerung daran, wie sehr ein jeder von uns in der Verantwortung steht, es nicht durch Nichtstun, Tolerieren oder gar Mitlaufen wieder so weit kommen zu lassen, dass Menschen wie Stella Goldschlag zu entsetzlichen Entscheidungen getrieben werden, vor denen niemals ein Mensch stehen sollte, um sein eigenes Überleben zu sichern.
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