Seien wir ehrlich: Niemand erwartet von "Matrix Reloaded" weniger als die Verkündung des neuen Evangeliums. Wie auch sonst soll man dem Sequel des Films begegnen, der 1999 die Grenzen des Kinos erweiterte wie es davor zuletzt, na ja, "Star Wars" gelang. "Matrix" kombinierte revolutionäre Spezialeffekte, eine gänzlich neue Gesamtästhetik und eine Story, die von Existenzphilosophie über Maschinenparanoia bis hin zu Erlösungsphantasien alles enthielt, was im menschlichen Geist zur Jahrtausendwende so rumspukte. "Matrix" ist und war nichts weniger als der erste Film des neuen Jahrtausends, und das sind Fußstapfen, die sich unmöglich füllen lassen. Seien wir ehrlich: Hätte man vor "Matrix" tatsächlich eine klare Idee davon gehabt, was einen dort erwartet, wäre die Gehirnspülung damals nicht so drastisch ausgefallen. Die Fortsetzung krankt deshalb schon bevor sie überhaupt angefangen hat an eben diesem Vorwissen. Man ist also gut beraten, seine Erwartungshaltung zu zügeln und rational zu betrachten, was "Matrix Reloaded" leisten kann: Die Möglichkeiten visueller Effekte noch einmal um ein paar Schritte erweitern, und jener Story ein paar zusätzliche Twists verpassen, die ihr Grundprinzip - und somit die Hauptkomponente der Gehirnspülung - bereits vollständig in Teil Eins offenbart hat. "Matrix Reloaded" kann das Erlebnis des ersten Teils in all seiner facettenreichen Intensität nicht wiederholen. Wer sich dessen klar ist, wird die Fortsetzung als das genießen können, was sie ist: Ein Film, der alles bietet, was er zu leisten vermag. "Matrix Reloaded" ist keine Offenbarung. Aber er ist ganz sicher auch keine Enttäuschung. Beileibe nicht.
Eine Enttäuschung ist auch der "Auserwählte" Neo bisher nicht für die menschliche Gemeinde, die außerhalb der Matrix lebt: Seit seinem ersten Sieg über die Kontrollprogramme konnten in wenigen Monaten mehr Menschen von den Maschinen befreit werden als in Jahren zuvor. Man könnte sich im Aufschwung wähnen, wenn die Maschinen nicht dabei wären, sich mit einer gigantischen Armada von 250.000 Wächtern (die tintenfischartigen Angriffsroboter aus Teil Eins) ins Erdinnere vorzubohren, zur Stadt Zion, der letzten Bastion der Menschheit. Während man sich dort für den Angriff wappnet, brechen Neo und seine Weggefährten Trinity und Morpheus erneut in die Matrix auf, in der Hoffnung, dass sich die Prophezeiung erfüllen möge: Dass es an Neo ist, das Herz der Maschinendiktatur offen zu legen und zu vernichten, noch bevor Zion angegriffen wird. Doch die Selbstzweifel sind immer noch groß im Auserwählten, und auf dem Weg ins Zentrum der Matrix wird er nicht nur alte Bekannte treffen, sondern auch eine Vorherbestimmung, auf die er nicht vorbereitet war.
Bis dahin vergeht indes eine ganze Weile, und der Beginn von "Matrix Reloaded" ist ein relativ gemächliches Abfeiern der eigenen Schönheit: Die Rückkehr nach Zion, die Bilder dieser unterirdischen Riesenstadt und eine gigantische Party mit religiösem Anstrich sind zwar sehr schön anzusehen, fühlen sich aber ein bisschen an wie selbstverliebtes Bewundern des eigenen Set Designs - als könnten die Wachowski Brothers sich nicht satt sehen an all den Dingen, die sie sich jetzt leisten können (die Bereitschaft der Produzenten, für dieses unbestrittene Filmereignis des Jahres sämtliche Geldschränke zu öffnen, ist offensichtlich). So fällt denn auch zuerst die konsequente Weiterführung des Design-Konzepts aus Teil Eins auf: Keanu Reeves' Neo-Gothic-Outfit ist noch ein bisschen schwärzer, die reale Welt noch ein bisschen grauer und die kalte Künstlichkeit der Matrix noch ein bisschen blau-grüner. Für kurze Zeit droht der Film, sich im eigenen Design zu verlieren, und entsprechend wirken die zu Anfang neu eingeführten Figuren wie der militärische Commander von Zion, Lock (Harry Lennix), oder Link (Harold Perrineau), der neue Operator von Morpheus' Schiff Nebukadnezar, eher wie einfallslose Klischees denn wie wertvolle Beiträge zum Charakter-Karussell.
Doch noch rechtzeitig können sich die Wachowskis von ihren grandiosen Oberflächen losreißen und sich auf eine andere Sache konzentrieren, die "Matrix" so besonders gemacht hat: Die virtuose und unvergleichliche Inszenierung von Action-Szenen.
Das hier wäre keine Fortsetzung von "Matrix", wenn man nicht auch hierfür etwas Neues erfunden hätte: Was für Teil Eins die "Bullet Time"-Aufnahmen waren (das scheinbare Einfrieren von Körpern, während die Kamera um sie herum rast; wird hier exzessiv weiter zelebriert), ist für Teil Zwei "Universal Capture": Ein neu entwickeltes Verfahren der Bewegungs- und Körperdigitalisierung, das eine fast makellose animierte Kopie einer Person ermöglicht, mit der man dann so ziemlich alles machen kann, was sich ein Kampfchoreograph nur auszudenken vermag. Höhepunkt im Einsatz dieser neuen Technik ist eine Kampfsequenz, in der es Neo gleichzeitig mit mehreren Dutzend identischer "Agenten" aufnimmt. Und auch wenn man in einigen Einstellungen erkennen kann, dass man hier nicht mehr Keanu Reeves zusieht, sondern lediglich einem computer-animierten Double - die Gesamtwirkung hinterlässt blankes Staunen. Nach dem ersten Teil hat so ziemlich jeder nachfolgende Actionfilm die Trick-Ästhetik von "Matrix" kopiert - das Bestreben der Wachowskis, diesmal etwas zu kreieren, was sich nicht so problemlos klauen lässt, könnte gelungen sein.
Was den reinen Spektakel-Charakter betrifft ist das allerdings nicht mehr als ein Appetizer für die zentrale Action-Sequenz von "Matrix Reloaded" - eine Verfolgungsjagd von solcher Dynamik, Geschwindigkeit und visuellem Irrwitz, dass sie auf einer "normalen" Autobahn gar nicht gedreht werden konnte: Einzig hierfür baute das Produktionsteam einen eigenen kilometerlangen Highway, und die Mühe war es wert. Was sich hier in vielleicht zehn ebenso atemlosen wie atemberaubenden Minuten abspielt, lässt sich in Worten schlichtweg nicht wiedergeben, und ist eine Sequenz, die berechtigterweise in die Annalen des Actionfilms eingehen wird.
Über die Wagenladung neuer "Programme" und Updates, die Neo und seinen Freunden in der Matrix zu schaffen machen, soll hier kein weiteres Wort verloren werden, denn die erlebt man am besten wirklich unvorbereitet und ahnungslos - umso größer das Staunen, wenn sie ihre wahren Fähigkeiten und Hintergründe offenbaren.
Insgesamt setzt "Matrix Reloaded" deutlich stärker auf Action denn auf Story als sein Vorgänger (verständlich, schließlich konnte man sich hier auch wesentlich mehr leisten), und aufgrund dieses Abfeierns wahrlich einzigartiger Schauwerte braucht es auch eine ganze Weile - genau genommen bis knapp zwanzig Minuten vor Schluss - bevor der Film endlich rausrückt mit seinem zentralen Story-Twist, der dann aber auch Neo's gesamte Berufung und die komplette Geschichte der Matrix ordentlich durcheinander würfelt. Aber Vorsicht: Wer hier nicht ganz genau zuhört, versteht unter Umständen nur noch Bahnhof. Die Vorliebe der Wachowski Brothers für japanische SciFi-Animes wie "Akira" oder "Ghost in the Shell" zeigt sich auch in derart komplexen Schlusserklärungen, dass man vor lauter Info-Overload den Anschluss zu verlieren droht.
Doch immerhin bleibt bis November Zeit zum begreifen, dann erwartet uns mit "Matrix Revolutions" der letzte Teil der Trilogie, den man am Ende auch kaum noch abwarten kann: Ohne Happy End, dafür mit sattem Cliffhanger (um den zu verstehen, muss man allerdings auch schon den ganzen Film über gut aufgepasst haben) lässt "Matrix Reloaded" seine Zuschauer ziemlich erschlagen im Kinosessel zurück. Das Sitzenbleiben lohnt sich allerdings, denn am Ende des Abspanns folgt noch ein kurzer Trailer für "Revolutions".
Wenn man dann aus dem Kinosaal zurück in die Realität wankt, hat man ganz sicherlich das größte und beeindruckendste Action-Spektakel dieses Jahres gesehen. So gesehen erfüllt "Matrix Reloaded" wirklich alles, was man von ihm erwarten konnte. Es bleiben allerdings auch noch sehr viele offene Fragen in der Luft hängen, und von deren Beantwortung wird schließlich die endgültige Qualität dieser Fortsetzung abhängen. Für die Wachowski Brothers bilden die Teile Zwei und Drei eine Einheit (drum wurden sie ja auch zusammen gedreht), die dramaturgisch nicht trennbar sind. Wir wollen's ihnen glauben und warten gespannt auf die Auflösung. Aufgrund zu vieler Fragezeichen, die letztlich erst der Schluss der Trilogie beseitigen kann, gibt's jetzt erstmal "nur" neun Augen - mit möglichem Upgrade im November.
Auch wenn Skepsis durchaus berechtigt war, und sei es nur, um die eigene Erwartungshaltung unten zu halten: "Matrix Reloaded" erweist sich insgesamt als würdige Fortsetzung, die auch zeigt, dass ein wirklich gutes Sequel nur dann gelingen kann, wenn man nicht nur mehr Geld hinein steckt, sondern auch noch genug Ideen übrig hat, um die ursprüngliche Geschichte intelligent zu erweitern. Genau das kriegt man hier. Willkommen zurück in der Matrix. Es ist wirklich schön, wieder hier zu sein.
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