„Les Misérables“ ist ein ziemlich ungewöhnlicher Vertreter des Musik-Theaters. Während Musicals sich im Allgemeinen gerne ein wenig dem Glamour hingeben und inhaltlich oft in Richtung des Fantastischen tendieren (tanzende Tiere, singende Güterzüge), zeichnet sich dieses Stück nach dem berühmten Roman von Victor Hugo durch das genaue Gegenteil aus: Mit beinhartem Realismus und ganz und gar unglamourös watet es knietief in Tragik und Unglück des Lebens einfacher Bürger im nachrevolutionären Frankreich.
Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) avancierte das ursprünglich französische Stück in seiner englischsprachigen Fassung zu einem der erfolgreichsten Musicals überhaupt: Seit seiner Premiere 1985 läuft es ohne Unterbrechung im Londoner Westend und wurde auch über 15 Jahre lang am Broadway in New York gespielt (dass Deutschland in Sachen Musical-Theater einen gewissen Provinzstatus nicht ablegen kann, lässt sich auch daran abmessen, dass sich „Les Miserables“ hierzulande bei zwei Anläufen nie längerfristig etablieren konnte).
Trotz dieser beachtlichen Erfolge hat es sehr lange gedauert, bis es „Les Miserables“ als Musical zum ersten Mal auf die Leinwand schaffte (der Roman wurde rund um die Welt schon Dutzende Male filmisch adaptiert). Einer der Gründe dafür war die Unabwägbarkeit, ob sich solch eine große Produktion rechnen würde: Angesichts der epochalen Breite der Handlung des Stücks darf man hier produktionell nicht kleckern, sondern muss klotzen. Nachdem in Folge des Oscar-Triumphs von „Chicago“ bereits etwas voreilig ein Revival des Kino-Musicals ausgerufen wurde, trübte der Flop von „Nine“ diese Aussichten aber wieder ein.
Die Produzenten von „Les Misérables“ gingen von daher ein nicht unerhebliches Risiko ein, doch der Mut zum Wagnis mit Regisseur Tom Hooper – der aus seinem Kinodebüt „The King’s Speech“ einen unerwarteten Triumphzug bis hin zum Oscar-Gewinn gemacht hatte – machte sich bezahlt: In den USA spielte der Film bereits über 140 Millionen Dollar ein und verbuchte acht Oscar-Nominierungen. Und das alles zurecht. Denn viel besser als hier kann man ein Musical eigentlich nicht auf die Leinwand bringen.
Inhaltlich konzentriert „Les Misérables“ die Handlung des 1000-seitigen Romans auf Musical-Länge und legt entsprechend ein strammes Erzähltempo vor. Hauptfigur ist Jean Valjean (Hugh Jackman), der nach fast 20 Jahren im Straflager (für den Diebstahl eines Laibes Brot und diverse Fluchtversuche) endlich zurück in Freiheit kommt und seine Identität ablegt, um den Repressionen der Gesellschaft gegen ehemalige Häftlinge zu entkommen. Im Lauf der nächsten 20 Jahre bringt er es auf ehrlichem Wege zu einigem Reichtum, nimmt sich als Ziehvater der kleinen Cosette an, nachdem deren verarmte Mutter Fantine (Anne Hathaway) gestorben ist, doch muss – selbst noch als Cosette zu einer entzückenden jungen Frau (Amanda Seyfried) heran gewachsen ist – die ständige Entdeckung durch den Polizeiinspektor und ehemaligen Gefangenenwärter Javert (Russell Crowe) fürchten, dessen Lebensweg den von Valjean immer wieder kreuzt.
Die verschiedenen Handlungsstränge von „Les Misérables“ – natürlich gibt es hier für die ganz großen Gefühle auch noch ein herzzerreißendes Liebesdreieck – kulminieren schließlich während des Juni-Aufstands 1832, und spätestens wenn hier die republikanischen Patrioten ihre Fahnen schwenken und zu den Waffen greifen, schwingt sich „Les Misérables“ zu einem gebührenden epochalen Pathos auf, bei dem sich die gekünstelte Melodramatik der meisten Musicals verschämt in die Ecke verkrümelt. Dies hier ist ein Stoff für ganz große Bilder, und das weiß Regisseur Hooper bereits in den allerersten Sekunden mit einer atemberaubenden Eröffnungsaufnahme umzusetzen: Da treibt eine große französische Flagge auf dem Meer, die Kamera taucht unter ihr, um dann die Wasseroberfläche zu durchstoßen und schwerelos schwebend den Blick frei zu geben auf ein riesiges Kriegsschiff, das von aberhunderten Strafarbeitern gerade ins Trockendock gezogen wird.
Nach dieser kolossalen Eröffnung legt „Les Misérables“ musikalisch los und lässt seinem Publikum angesichts der pickepackevollen Handlung in den nächsten zweieinhalb Stunden kaum einen Moment zum Durchatmen. Dass man hier auch und vor allem bei den Gesangsnummern emotional höchst involviert bleibt, ist einem entscheidenden Inszenierungs-Kniff von Tom Hooper zu verdanken: Normalerweise werden bei Film-Musicals die Gesangsparts vor den Dreharbeiten im Studio eingesungen und beim Dreh dann lediglich zum Playback agiert. Hooper jedoch ließ seine Akteure bei jedem Take ihre Nummern „live“ singen, und der entstandene Effekt ist phänomenal: Die Lieder sind weniger „sauber“ gesungen und machen die direkten, rohen Emotionen in ihrem Vortrag viel deutlicher spürbar – man hat nicht mehr den Eindruck, einer „Performance“ zu lauschen, sondern einen Menschen zu erleben, der eben ganz direkt seine Gefühle durch seinen Gesang ausdrückt. Eben das, was ein Musical eigentlich leisten sollte.
Am deutlichsten wird dieses Phänomen im größten „Hit“ dieses Musicals, das hier von Anne Hathaway als Fantine vorgetragene „I dreamed a dream“ – ein Stück, das gerade durch seine dramatische Platzierung (Hooper nahm sich die Freiheit, die Reihenfolge der Lieder im Musical an manchen Stellen leicht zu variieren – mit höchst gelungener Wirkung) fast zerbirst vor Verzweiflung, Tragik und Ausweglosigkeit. Es sind denn auch diese wenigen Minuten, die Anne Hathaway nach dem Golden Globe vermutlich auch den Oscar als beste Nebendarstellerin einbringen werden. Ihre Leinwandzeit ist nicht sehr lang, trotzdem bleibt sie mit ihrer famosen Ausdruckskraft hier nachhaltig in Erinnerung und hinterlässt von allen (sehr guten) Akteuren den größten bleibenden Eindruck.
Da kommt selbst das über den gesamten Film gezogene Duell von Hugh Jackman und Russell Crowe nicht gegen an – auch wenn man den Filmemachern zugestehen muss, dass dieser bemerkenswerte Casting-Coup die wohl beste Lösung für die Gegenüberstellung des aufrechten Jean Valjean und des unerbittlichen Javert ist – zwei ganze Kerle, die sich nichts geben.
Sehr stimmungsvoll umgesetzt in allen Belangen von Kamera bis Ausstattung, gesegnet mit einer großartig bis herausragend agierenden Besetzung und gelenkt von einer makellosen Inszenierung durch die enorm sichere Hand Tom Hoopers, kann man an „Les Misérables“ eigentlich absolut nichts aussetzen – außer vielleicht, dass es ein Musical ist. Dieses Genre ist und bleibt mit seinen Eigenheiten halt eine Geschmacksfrage, mit der sich viele Filmfreunde auch im besten Falle nicht anfreunden können. Wer Musicals grundsätzlich nicht mag, wird vermutlich auch hiermit nicht warm werden können. Dank seiner Genre-untypischen Tragik, Dramatik und „Schmutzigkeit“ ist „Les Misérables“ trotzdem das packendste und beste Film-Musical seit langer, langer Zeit.
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