Seit der Produktion von James Camerons "Titanic" haben wohl keine Dreharbeiten so viele Schlagzeilen produziert wie die zu Martin Scorseses Epos "Gangs of New York": explodierende Produktionskosten, über acht Monate Drehzeit, Ego-Kämpfe zwischen dem Regisseur und dem Produzenten, unzählige Neuschnitte und Startverschiebungen, sowie ganze Schauspielscharen, die während der Dreharbeiten absprangen. Der Film wurde schon im Vorfeld abwechselnd zu einem finanziellen Jahrhundertflop á là Michael Ciminos "Heaven's Gate" oder zum heißesten Oscar-Kandidaten des Jahres gekürt (die 10 Nominierungen dürften der zweiten Gruppe nun recht geben). Umso überraschender ist es daher, dass "Gangs of New York" trotz aller Skandale und Gerüchte ein äußerst gradliniger Film geworden ist, dessen recht simpler Racheplot anfänglich kaum jemanden vom Hocker reißen wird:
Der Film spielt in dem berüchtigten (und heute nicht mehr existierenden) New Yorker Stadtteil "Five Points", der Mitte des 19. Jahrhunderts so eine Art Super-Slum war, neben dem selbst die urbanen Alpträume von Charles Dickens zu harmlosen Gute-Nacht-Geschichten verblassten. Dort, wo nun die gigantischen Türme von Downtown Manhattan thronen, kam es immer wieder zu ethnisch und religiös motivierten Auseinandersetzungen zwischen den Banden der selbst ernannten "Natives" (jenen protestantischen Angelsachsen, die schon seit mehreren Generationen in der Neuen Welt lebten) und den Massen der vornehmlich irisch-katholischen Immigranten, die vor den Hungersnöten in ihrer Heimat nach Amerika flohen. Bei einem solchen Bandenkrieg zwischen den irisch-stämmigen "Dead Rabbits" unter der Führung des Priesters Vallon (Liam Neeson) und den "Eingeborenen", die dem charismatischen Bill "The Butcher" Cutting (Daniel Day-Lewis) folgten, wurden die irischen Gangs in "Five Points" endgültig besiegt und der Priester vor den Augen seines kleinen Sohnes Amsterdam getötet. Jahre später kehrt Amsterdam (Leonardo DiCaprio) nach "Five Points" zurück, um sich an Bill zu rächen, der mittlerweile mit seiner Bande den gesamten Stadtteil beherrscht und den Jahrestag seines Sieges über die Iren zu einem lokalen Feiertag erklärt hat. Damit er seine Vergeltung besonders effektiv gestalten kann, arbeitet sich Amsterdam zuerst als Kleinkrimineller in den Rängen der "Natives" nach oben und wird schließlich Bills Vertrauter. Während sich das Verhältnis der beiden zu einer Art Vater-Sohn-Beziehung entwickelt, verliebt sich Amsterdam in die Trickbetrügerin Jenny (Cameron Diaz). Die Ereignisse spitzen sich weiter zu, als der Jahrestag der Schlacht näher rückt und die Auswirkungen des amerikanischen Bürgerkrieges New York City in eine politische und gesellschaftliche Zeitbombe verwandeln...
Basierend auf Herbert Asburys legendärem Buch von 1928 betreibt Martin Scorsese, der akribische Chronist der dunklen Seite Amerikas ("Casino", "Good Fellas", "Taxi Driver"), in "Gangs of New York" durchaus einen gewissen historischen Revisionismus: anstatt die Geschichte schön zu schreiben und ein weiteres Mal den Mythos vom pluralistischen Amerika zu beschwören, das auf den Idealen von Freiheit und Gerechtigkeit aufgebaut wurde, zeigt Scorsese, dass die amerikanische Geschichte in Blut geschrieben wurde. Der viel zitierte gesellschaftliche Schmelztiegel New York City wirkt bisweilen wie ein mittelalterliches Schlachtfeld, und von friedlicher Koexistenz oder freiwilliger Assimilation unter dem Banner einer Neuen Republik ist nicht viel zu spüren: Katholiken gegen Protestanten, Arm gegen Reich, Weiß gegen Schwarz, "Einheimische" gegen Ausländer. Die Einwanderer tragen die Konflikte ihrer Heimat mit in die Neue Welt, wo sie aufgrund der Bevölkerungsdichte und der brutalen Lebensumstände in "Five Points" noch weiter eskalieren.
Das Amerika in "Gangs of New York" wird von sozial-darwinistischen Prinzipien, Korruption und Egoismus geprägt. Diese Polemik dürfte in den Zeiten des überschäumenden Hurra-Patriotismus zwar einigen missfallen (wofür die eher enttäuschenden 65 Millionen Dollar Einspielergebnis in den USA, sowie die vernichtenden Kritiken vieler amerikanischer Rezensenten ein gutes Zeichen sind), kann gleichzeitig aber auch als ein Erklärungsversuch für die Situation der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft verstanden werden, in der Gewalt immer noch ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens ist.
Zugegeben: sowohl DiCaprio als auch Diaz wirken in den Kulissen der "Five Points" (die übrigens mit viel Liebe zum Detail in Rom rekonstruiert wurden) etwas deplaziert und nicht wirklich authentisch (in der Originalversion kommt und geht DiCaprios irischer Akzent wie es ihm gerade gefällt), und selbst die Schichten aufgeschminkten Drecks können nicht verbergen, dass die beiden hoch bezahlte Hollywood-Stars sind. Ob man ihnen eben diese Star-Qualitäten zum Vorwurf machen kann, bleibt dann dem einzelnen Zuschauer überlassen. DiCaprio bemüht sich zwar redlich, in der Rolle des Rächers sein "Titanic"-Milchbubi-Image endgültig abzulegen (wahrscheinlich wird er damit noch als 70-jähriger Altstar zu kämpfen haben), aber letztendlich fehlen seinem Spiel trotz aller bemüht bösen Blicke die nötigen Ecken und Kanten (bevor jetzt die obligatorischen Protest-Mails eintrudeln: ja, in "Basketball Diaries" und "Gilbert Grape" war der Junge genial) und von der sehr routiniert agierenden Diaz hat man einfach schon besseres gesehen (z.B. "Being John Malkovich").
Aber da wäre noch Daniel Day-Lewis als der Butcher. Hätte "Gangs of New York" keine anderen Stärken: Day-Lewis alleine würde den Kauf einer Eintrittskarte rechtfertigen. Er mimt den ebenso exzentrischen wie charismatischen Bandenführer mit so viel Spielfreude und Leinwandpräsenz (im Original zudem mit einer absolut coolen Vorform des New Yorker Dialektes ausgestattet), dass selbst die aufwendigsten Kulissen neben ihm zu billigen Pappmaché verkommen. Indem er seine Rolle irgendwo zwischen Oper, elizabethanischem Theater und Mafiafilm angelegt hat, wird aus ihm so etwas wie der Archetyp des Hollywood-Schurken. Doch trotz aller Theatralik ist der Butcher die mit Abstand komplexeste Figur des Films. Sein Handeln und sein Charakter bleiben immer ambivalent: mal sympathisch, mal fies, mal Vaterfigur, mal Hassfeind, einem bizarren Ehrencodex folgend und doch machtgeil, gerecht und zugleich willkürlich: Day-Lewis verkörpert diese Kontraste so lakonisch und mit einer hintergründigen Ironie versetzt, dass er über weite Strecken hinweg den gesamten Film zu tragen scheint. Die Nominierung für den Hauptrollen-Oscar ist daher mehr als nur gerechtfertigt.
Auch die Oscar-nominierte Kameraarbeit von Michael Ballhaus ist wieder einmal makellos und bisweilen von bruegelischer Größe. Zusammen mit den beeindruckenden Kostümen (auch hier führt der Butcher nach Punkten) und Sets (beide ebenfalls für den Academy Award nominiert) macht sie "Gangs of New York" zu einem opulenten Bilderrausch, der visuell zu keiner Sekunde langweilt. Was bleibt ist die Frage nach Scorseses Regieleistung. Scorsese-Puristen, die auf das Opus Magnum des Meisters gehofft haben, dürfte der Film, trotz all seiner Brutalität (Zartbesaitete werden sich bei den anatomisch äußerst detaillierten Schlachtszenen wohl angewidert abwenden müssen), vielleicht ein wenig zu zahm und konventionell ausgefallen sein. Die erzählerische Gradlinigkeit von "Gangs of New York" kann angesichts der stürmischen Entstehungsgeschichte des Streifens aber durchaus auch als positiv empfunden werden, denn der Film bietet vor allen Dingen eines: 160 Minuten lang unterhaltsames und relevantes Kino auf überaus hohem Niveau. Und wer weiß, vielleicht rückt Scorsese irgendwann noch mit einem dreieinhalb-stündigen Director's Cut raus, um das ein oder andere Loch im Plot zu stopfen und seine Kritiker endgültig zum Schweigen zu bringen.
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