Es ist fast wie in der klassischen Anekdote vom Ehemann, der nur mal schnell Zigaretten holen wollte: Terry Wolfmeyer (Joan Allen), Vorstadt-Hausfrau mit vier fast erwachsenen Töchtern, wacht eines morgens auf und muss feststellen, dass ihr Gatte verschwunden ist - durchgebrannt, mit seiner Sekretärin, offenbar nach Schweden. Auf einmal steht Terry alleine da, mit nichts als vier gefühlsmäßig distanzierten Töchtern und einer Menge Wut im Bauch - die sie daraufhin erstmal im Alkohol ertränkt. Für ihren schrulligen und etwas aufdringlichen Nachbarn Denny (Kevin Costner) - ein ehemaliger Baseball-Star, der von seinem Ruhm zehrend eine eigene Talkshow im lokalen Radiosender ergattern konnte - wird Terry zunächst zur Saufkumpanin, dann zur Freundin, und langsam zu etwas mehr. Doch Terry als auch Denny sind zu erwachsen, desillusioniert und abgestumpft, als dass sich hier eine einfache Romanze entwickeln könnte, und auch die Töchter-Schar sorgt mit ihren eigenen Problemen für viel Aufregung und Sorgen in der sich langsam etablierenden Patchwork-Familie.
Wer sich von dieser wenig spektakulären Inhaltsangabe nicht angesprochen fühlt, sei gleich an dieser Stelle versichert: "An deiner Schulter" ist ein absolut großartiger Film, dessen beeindruckende Stärken weniger im Was seiner Erzählung liegen, als im Wie. Grundsätzlich ist die Geschichte von Denny, Terry und ihren Töchtern dramatische Standardkost, in der die gebeutelten Charaktere ihr Leben (wieder) in den Griff zu kriegen versuchen - nichts Besonderes. Aber: Mit welchem Feingefühl hier sowohl Regisseur/Autor Mike Binder als auch sein famoses Ensemble die Charaktere aufbohren und das Innenleben der Figuren ausleuchten, das ist von einer kongenialen Klasse, die den leidlich konventionellen Plot von "An deiner Schulter" in ein handwerklich brillant umgesetztes Drama wandelt, dass jeden ernsthaften Filmfreund begeistern wird.
Hier sollte man dann auch gleich klarstellen, dass "An deiner Schulter" ein selten blöder deutscher Titel ist, der den Film unnötig in die kuschelig-romantische Schnulzenecke drängt, wo er wahrlich nichts zu suchen hat. Denn auch wenn es wahr ist, dass Terry und Denny sich in ihren jeweiligen Lebenskrisen wichtige Stütze geben, so geschieht dies in einer gänzlich unkonventionellen und kein bisschen gefühlsduseligen Art und Weise. Hier geht es nicht um das zärtliche Zueinanderfinden, sondern um das weitaus realistischere Zusammenraufen und gemeinsam durch Enttäuschungen und Rückschläge helfen. "The Upside of Anger", so der treffende Originaltitel, unterstreicht das eigentliche Motiv der Geschichte: Dass auch Wut (ob nun verzweifelt, blind oder berechtigt) ihre positiven Folgen haben kann - weil sie Auseinandersetzung, Aufrüttelung, letztlich Veränderung bewirkt. Wie klugscheißt man doch so schön: Das chinesische Wort für "Krise" bedeutet gleichzeitig auch "Chance". Der deutsche Titel kann nichts von dieser reifen und komplexen Thematik vermitteln, und wird drum von nun an ignoriert.
Regisseur und Autor Mike Binder (der in einer gewichtigen Nebenrolle als Dennys Radio-Produzent auch selbst mitspielt) ist bereits seit über einem Jahrzehnt im Geschäft, doch bisher hat es keiner seiner Independent-Filme zu einem deutschen Kinostart gebracht. Dafür hat es erst der versammelten Star-Power des "Upside of Anger"-Ensembles bedurft, für dessen Anwesenheit man in mehrer Hinsicht dankbar sein muss: Zum einen, weil wir dadurch überhaupt in den Genuss von Binders hervorragendem Drehbuch und brillanter Regieleistung kommen, zum anderen, weil die bekannten Namen auf der Besetzungsliste sich allesamt in Höchstform präsentieren und Binders superbes Ausgangsmaterial auch entsprechend umzusetzen wissen.
Dies gilt - und das mag viele überraschen - auch für Kevin Costner, der von vielen schon lang abgeschrieben wurde und sicherlich auch schon mehr als genug abgehalfterte Sportler in seiner Karriere gespielt hat. Sein gänzlich uneitles und fast schon mutiges Portrait des heruntergekommenen Ex-Baseballstars Denny, der sich in einem Alkohol- und Marihuana-verhangenen Post-Karriere-Alltag ein bisschen individuelle Würde zu erhalten versucht, ist erfrischend unprätentiös und mit der nötigen Zurückhaltung angelegt, um bescheidene Unterstützung zu geben für die eigentliche Supershow von "The Upside of Anger": Was Joan Allen - ohnehin eine der begnadetsten Schauspielerinnen ihrer Altersklasse - hier abzieht, ist ganz großes Schauspielkino, schlichtweg genial und sollte ihr jetzt bereits eine Oscar-Nominierung einbringen, wenn es so etwas wie Gerechtigkeit unter der Sonne gibt. Ihre tour de force durch das emotionale Chaos Terrys, die mit nachhaltigem Recht auf ein wenig persönliche Freiheit und Egoismus pocht und doch die Verpflichtungen als Mutter nicht aufgeben kann, ist eine bravouröse Meisterung einer komplexen und enorm anspruchsvollen Rolle, die Allen gekonnt selbst in den haarigsten Momenten alkoholisierter Selbstsucht noch so gerade diesseits des Sympathiepegels halten kann. Die Wechselwirkungen aus emotionalem Aufruhr und abgeklärt-zynischer Lebenserfahrung, die ihre "Jenseits der besten Jahre"-Figuren durchmachen, wissen Costner und Allen meisterhaft einzufangen.
Unterstützt werden die beiden Hauptdarsteller dabei von einer erlesenen Auswahl an Nachwuchs-Aktricen in den Rollen von Terrys vier Töchtern: Während Erika Christensen weiterhin ein wenig die große Klasse schuldig bleibt, die ihr fabulöses Debüt in "Traffic" durchscheinen ließ, können gerade Keri Russell (Star der TV-Serie "Felicity") und Neuentdeckung Evan Rachel Wood ("Dreizehn") als jüngste Tochter und Erzählerin Lavender beeindrucken und ihre jeweiligen Subplots besonders markant gestalten. Die rothaarige Alicia Witt als die emotional als auch räumlich distanzierteste Tochter Hadley bekommt weniger starke Momente eingeräumt, leistet aber ihren Anteil zu einer tollen Ensembleleistung, in der sich der schlaue Mike Binder natürlich einige der Sahnestücke selbst zugeschustert hat.
Man mag's ihm verzeihen, denn die realistischen Einblicke in die Gefühls- und Lebenswelt seiner vornehmlich weiblichen Figuren sind von einer überraschenden Einsicht - gerade für einen Mann. Die Eleganz und Subtilität, mit der Binder die Entwicklung seiner Figuren illustriert, ist dabei fast schon Roman-artig und gibt dem Film eine erzählerische Tiefe, die man im Kino viel zu selten findet. Kombiniert mit einer detailfreudigen Bildkomposition erweckt Binder die Welt seiner Figuren so zu realgetreuem Leben und kreiert durch seine Feinarbeit wundervoll plastische Charaktere abseits jeden Klischees. Zudem versteht er es gewandt, eine unterschwellige Angst und Vorahnung im Geiste des Zuschauers zu sähen, und so die gefühlte Spannung auch in ruhigeren und komischen Momenten hoch zu halten.
Einzig das Ende kann man "The Upside of Anger" ein wenig vorhalten. Dort erwartet den Zuschauer eine diskussionswürdige Schlusswendung, die das Geschehene in einem neuen Licht erscheinen lässt und dem Ganzen eine neue Sichtweise aufdrückt, ohne die der Film vielleicht besser ausgekommen wäre. Auch wenn diese Wendung dem unterliegenden Thema des Films durchaus eine interessante weitere Note abgewinnt: Sie entlässt den Zuschauer mit einem leicht schalen Geschmack im Mund - und solch einen Schluss hat diese wundervoll erzählte Geschichte eigentlich nicht verdient.
Trotz dieses kleinen Mankos ist "The Upside of Anger" aber absolut vorbildlich ausgeführtes und beeindruckend umgesetztes Erzählkino, und ein ebenso ruhiger wie unbedingt zu empfehlender Geheimtipp im lauten Kino-Sommer.
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