„In den meisten Filmen ist sehr wenig
Kino. Ich nenne das ‚Fotografieren von redenden Leuten‘. Wenn man
im Kino eine Geschichte erzählt, sollte man nur Dialog verwenden,
wenn es nicht anders geht. Man sollte dem Visuellen immer den Vorrang
vor dem Dialog geben.“
Alfred Hitchcock
Der Besuch in einem altmodischen Badehaus und dieses Zitat von Altmeister
Hitchcock waren wohl die grundlegenden Inspirationen für „Tuvalu“,
das Spielfilmdebüt des ehemaligen Kurzfilmers Veit Helmer. Ein
Film, dessen Entstehung sich über Jahre hin zog, obwohl die Drehzeit
gewöhnliche 70 Tage betrug. Helmer wollte alles perfekt haben,
seine Vision haargenau in die Realität umsetzen. Das bedeutete
monatelanges Suchen nach der richtigen Kulisse und jahrelanges Suchen
nach den richtigen Darstellern. Als Ergebnis dieser Tour de force
steht nun ein Film, der auf etwa einem Dutzend Festivals mit Lob und
Preisen überschüttet wurde, und generell als ein ganz wichtiger
Schritt für das deutsche Kunstkino hochgejubelt wird. In der
Tat ist es so, daß „Tuvalu“ ein sehr außergewöhnlicher
Film ist, den es in dieser Form noch nicht gab. Es ist aber auch so,
daß vor lauter Kreativität ganz elementare Dinge außer
acht gelassen wurden. Aber von vorne.
Als erstes gilt es, sich von unserer Welt als solches zu verabschieden:
„Tuvalu“ spielt irgendwo und irgendwann, hat aber keinen realen Hintergrund.
Zwischen den Ruinen einer Stadt steht ein altes, baufälliges
aber sehr schönes Badehaus. Der Besitzer ist erblindet, aber
ein stolzer Mann, der seine Bademeister-Tätigkeit
nicht aufgeben möchte. Und so spielen sein Sohn Anton und die
Kassiererin Martha Tag für Tag regen Betrieb im Schwimmbad vor,
mit Türen klappern und einem Tonband, von dem lustiges Kindergeschrei
tönt, obwohl in Wahrheit nur zwei oder drei Badegäste da
sind. Eines Tages taucht die junge Eva mit ihrem Vater, einem ehemaligen
Kapitän, im Schwimmbad auf, und natürlich verliebt sich
Anton in sie. Doch das Glück hat kaum eine Chance: Antons böser
Bruder Gregor reißt mit seinen Geschäftspartnern das letzte
Wohnhaus der Gegend ab, und setzt nun alles daran, auch das Badehaus
seines Vaters dem Erdboden gleich zu machen. Dazu ist jedes Mittel
recht: Sabotage, Verleumdung, Mord. Es entbrennt ein Kampf um die
Erhaltung des Schwimmbads, die Zuneigung von Eva, und um die wertvolle
Maschine, die im Schwimmbad das Wasser beheizt.
Wer
Veit Helmer ärgern möchte, der bezeichnet „Tuvalu“ als Schwarz/Weiß-Stummfilm,
denn genau das ist er nicht, aber als genau das behält man ihn
in Erinnerung. Die ursprünglich in Schwarz/Weiß gedrehten
Filmrollen wurden auf Farbfilm kopiert, so daß jede Szene einen
sehr matten Grundfarbton hat (gelb, grün, rot, blau). Was an
der primär farblosen Optik nicht viel ändert. Stummfilm
stimmt auch nicht, denn obwohl das Drehbuch weniger Dialogworte enthält
als der Film Minuten lang ist (es wird hauptsächlich gesprochen,
um den Charakteren ihre Namen zuzuordnen), hat er doch eine sehr detailliert
ausgearbeitete Tonebene, die laut Regisseur mindestens soviel transportiert
wie die visuellen Elemente. Also ein Fast-Schwarz/Weiß-Fast-Stummfilm.
Das klingt jetzt ein bißchen sarkastisch, ist nicht ganz so
böse gemeint, aber dennoch ein Kritikpunkt: „Tuvalu“ ist als
ein Experiment filmischer Erzählkunst sehr einfallsreich, durchaus
interessant und komplex betrachtbar. Was fehlt ist eine Handlung.
Der große Hitchcock, der Teil von Helmers Inspiration zu sein
scheint, hat kaum einen
Film gemacht, der nicht in gewisser Weise experimentell war oder mit
mindestens einer Kinokonvention gebrochen hat: Die Hauptdarstellerin
nach einer halben Stunde abstechen (Psycho), der Kamera einen Aktionsradius
von drei Metern lassen (Das Fenster zum Hof), den Film ohne sichtbare
Schnitte inszenieren (Cocktail für eine Leiche). Das alles waren
waghalsige Experimente, aber sie gipfelten alle in Filme, die ihre
Zuschauer primär durch ihre Handlung fesselten. Bei seiner ausartenden
Experimentierfreude hat Helmer genau dies vergessen: „Tuvalu“ ist,
strikt von der Handlung her, langweilig und einfallslos.
Die ganze Geschichte strotzt nur so von erzählerischen Allgemeinplätzen
und Konflikt-Stereotypen: Der Kampf um die Gunst des Vaters, das Duell
zweier Brüder um die Liebe eines Mädchens, die Überwindung
der eigenen Ängste, der Konflikt zwischen Idealen und Geschäft,
Lust, Betrug, Vertrauen, Mißtrauen, Existenzängste, Wunschträume.
Alles wird so peinlich unsubtil zusammengepresst, daß man das
Gefühl hat, Helmer hat sich einfach eines simplen Plot-Bausatzes
bedient, alle Elemente verwurschtelt und dann seinen wahren Elan auf
die kreative Umsetzung verwandt. Schade.
Die
Suche nach den passenden Darstellern erwies sich auch deshalb als
so schwierig, weil die Anforderungen natürlich enorm waren: Durch
das vollständige Fehlen von Dialog muß alles über
die Mimik transportiert werden, und das erfordert im klassischen Stummfilm-Sinne
ausdrucksstarke Gesichter, die den entsprechenden Charakter selbständig
definieren. So ist es denn auch: Ein Blick ins Antlitz der Darsteller
reicht, um die grundlegenden Züge der Figuren vorhersehen zu
können. Der Rest geschieht über ein expressives Mienenspiel,
bei dem große Augen, offene Münder und faltige Stirnen
Konjunktur haben. Stummfilm funktioniert nur über Over-Acting,
auch wenn das heutzutage eigentlich ein Unwort ist.
„Tuvalu“ gehört zu den Filmen, die nur ein kleines, aber sehr
dankbares Publikum finden. Manch einer wird sich ob der grandiosen
Innovation der Inszenierung gar nicht mehr einbekommen, und die interpretativen
Ebenen sind in ihrer Vielschichtigkeit ganz sicher atemberaubend.
Dennoch hat Helmer die von Hitchcock erwähnte Zielsetzung verfehlt:
Er hat dem Visuellen den Vorrang vor dem Dialog gegeben, aber dabei
vergessen, eine vernünftige Geschichte zu erzählen. Man
nenne mich altmodisch und reaktionär, aber für mich hat
ein wirklich guter Film etwas mehr zu sagen als „Guck mal, wie toll
ich aussehe.“ Was bleibt ist ein Film, den man sich gerne ansieht,
aber nicht gerne guckt.
Land
Jahr
1999
Laufzeit
92 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
Neuen Kommentar hinzufügen