In
den Weihnachtsferien 1994 hatte ich genau zwei Dinge zu tun: Das
gerade geschenkt bekommene und heiß ersehnte Computerspiel
"Wing Commander III" zocken, und die neue Lektüre
meines Deutsch-Kurses lesen, Theodor Fontanes "Effi Briest".
Wo meine Prioritäten lagen, dürfte klar sein, aber da
das Spiel natürlich High End und in seinen technischen Anforderungen
sehr anspruchsvoll war, mein damaliger Rechner aber noch mehr als
eine Generation zurück, musste ich mich vor jeder Mission exakt
fünf Minuten vor einem Ladebildschirm gedulden, bis es endlich
weiter ging. Dank dieser fünf Minuten habe ich "Effi Briest"
ziemlich genau in
derselben Zeit gelesen, die ich benötigte, um "Wing Commander
III" durchzuspielen. Und dank meiner völlig abwesenden
Aufmerksamkeit während der Lektüre und dem beiläufigen
Erzählton des Romans, der sich an das gesellschaftliche Geplauder
seiner Entstehungszeit anlehnt und Schlüsselmomente quasi zwischen
den Zeilen versteckt, habe ich überhaupt nicht kapiert, was
eigentlich vor sich ging.
In der ersten Stunde nach den Ferien beschwerte ich mich lauthals
über die inhaltsleere und abstruse Geschichte, bis ich darauf
hingewiesen wurde, dass Effi übrigens mit Crampas eine Affäre
hatte. Bis zu dem Moment war mir das völlig entgangen.
Das mag man jetzt als Beweis nehmen, dass Computerspiele blöd
machen, oder als Lektion, dass man große Literatur mit ein
bisschen mehr Aufmerksamkeit lesen sollte als die McDonald's Kino-News.
Oder man nimmt es als Beleg dafür, dass die neue Romanverfilmung
von Hermine Huntgeburth eine sehr interessante und sogar sinnvolle
Ergänzung zum Roman ist. Denn der Film zeigt genau das, was
bei Fontane zwischen den Zeilen stand, die Geschichte hinter der
Geschichte. Die inzwischen fünfte Verfilmung von Effi Briest
(die letzte und berühmteste stammte von Rainer Werner Fassbinder
aus dem Jahr 1974) macht aus der exemplarisch-tragischen Geschichte
eine persönliche und erzählt "Effi Briest" konsequent
aus der Perspektive von Effi selbst.
Gleich zu Anfang sieht man Effi (Julia Jentsch, "Die fetten Jahre sind vorbei", "Sophie Scholl") in aufgeregter Vorfreude auf einen Ball, doch der Tanz mit ihrem liebsten Verehrer wird von ihrer Mutter (Juliane Köhler, "Der Untergang") gestört, die sie in den Arm des Barons Geert von Instaetten (Sebastian Koch, "Das Leben der Anderen") befördert, 20 Jahre älter als Effi und pikanterweise in jüngeren Jahren ein glühender Verehrer ihrer Mutter. Am nächsten Tag schwärmt Effi in jugendlicher Sorglosigkeit mit einer Freundin von den hübschen jungen Männern, als ihre Mutter sie zum Haus ruft und ihr freudig verkündet, dass Instaetten um ihre Hand angehalten hat. Unten am Fluss winkt ihre Freundin. Der Abschied von Effis Jugend, die jetzt schon ganz weit weg erscheint.
In Szenen wie dieser kann man nicht nur das überragende Schauspiel
von Julia Jentsch bewundern, die vollkommen vergessen macht, dass
13 Jahre zwischen ihr und der gerade mal 17-jährigen Effi liegen,
und die sich für ihre fulminante Vorstellung hier den nächsten
deutschen Filmpreis abholen sollte. Diese Szenen zeigen auch, wie
elegant und sensibel Regisseurin Hermine Huntgeburth und ihr Drehbuchautor
Volker Einrauch ihre Neu-Interpretation von "Effi Briest"
umgesetzt haben. Sie bleiben dabei konsequent bei Effi und begleiten
sie durch all jene Situationen, die absolut prägend für
sie sind, im Roman aber kaum Erwähnung fanden.
Man
sieht die Angst und den Schmerz in ihren Augen vor und während
ihrer Entjungferung in der Hochzeitsnacht, die Instaettens Persönlichkeit
entsprechend ziemlich gefühllos abläuft. Man sieht ihre
verwirrte Verzückung, als sie sich nach Jahren betäubender
Langeweile in einer lieblosen Ehe erstmals dem attraktiven Major
von Crampas (Misel Maticevic) hingibt, der in ihr ungekannte Leidenschaften
weckt und sie zu ihrem ersten Orgasmus bringt. Man sieht ihren Kampf
gegen die Sehnsucht nach mehr, obschon sie weiß, dass der
verheiratete Crampas nur ein leichtfüßiger Verführer
ist. Und man sieht ihr verzweifeltes Bemühen, die tragischen
Konsequenzen ihrer Affäre zu ertragen.
So inszeniert Huntgeburth den etwas angestaubten Klassiker als moderne,
passionierte Geschichte einer jungen Frau in ihrem Kampf mit (und
eben nicht ihrem Scheitern an!) den gesellschaftlichen Konventionen
ihrer Zeit. Der Film ist ganz bei seiner Heldin, zeigt sie dementsprechend
letztlich auch nicht als Opfer, sondern leistet sich eine Umgestaltung
des Endes, das vom Roman abweicht, für die hier gezeichnete
Effi Briest aber konsequent und richtig ist.
Statt einer braven Literaturverfilmung schaffen Huntgeburth und
Einrauch ein persönliches, von starken Gefühlen getragenes
Drama, das sozusagen die Lücken füllt, die der Roman seiner
Form und Zeit entsprechend lassen musste. Dank der Konzentration
auf die Heldin und
die großartige Leistung von Julia Jentsch ist der Film gerade
auch als Ergänzung zum Roman zu empfehlen (z.B. für alle
Schüler, die in ihren nächsten Ferien für die Schule
"Effi Briest" lesen müssen). Hier lernt man Effi
wirklich kennen und kann nachempfinden, welche persönliche
Tragödie hinter der Geschichte dieses Teenagers steht.
Bei allem Lob für Julia Jentsch soll auch das restliche Ensemble
nicht vergessen werden, dessen namhafte Besetzung hohe Erwartungen
weckt, die durch die Bank erfüllt werden. Gerade Sebastian
Koch leistet dezente und darum umso großartigere Arbeit bei
der Darstellung des blind den Regeln und Konventionen preußischer
Gesellschaftsordnung folgenden Barons, und schlichtweg großartig
ist auch Barbara Auer als wundervoll passiv-bösartige Hausangestellte
Johanna.
Sie alle tragen ihren Teil dazu bei, dass aus "Effi Briest"
ein mitreißender, aufregender Film geworden ist, ein lebendiges
Drama, ebenso gefühlvoll wie leidenschaftlich. Puristen mögen
über Ergänzungen, Kürzungen und Abweichungen streiten.
Aus der Sicht eines Cineasten kann man nur sagen: "Effi Briest"
ist großes Kino.
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