X

Land
Jahr
2022
Laufzeit
105 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Marc Schießer / 18. Mai 2022

In den 70ern hat man sich bei Pornos noch Zeit gelassen. Statt die Digitalkamera direkt nach der Aufblende auf die Geschlechtsteile zu halten um den schnellstmöglichen Weg zum Orgasmus zu dokumentieren, waren Streifen wie der legendäre „Deep Throat“ auf echtem Filmmaterial gedreht, haben ihre Zuschauer mit einer naiven Geschichte, noch naiveren Figuren und viel Atmosphäre langsam geil gemacht, bevor die Hüllen fielen und die Säfte flossen.

Ähnliches hat auch die Gruppe von Jung-Schauspielern vor, die 1979 im ländlichen Texas in der Abgeschiedenheit eines Farmgeländes einen Porno produzieren will, um das große Geld zu machen. Beziehungsweise zu großen Stars zu werden, wie es der Traum von Stripperin Maxine Minx (Mia Goth) ist. Zusammen mit ihrem Partner und Produzent Wayne Gilroy (Martin Henderson), Marilyn Monroe Lookalike Bobby-Lynne (Brittany Snow), Soundtechnikerin Lorraine (Jenna Ortega), Regisseur RJ Nichols (Owen Campell) und „Male Talent“ Jackson Hole (Scott Mescudi, als Musiker bekannt unter dem Pseudonym Kid Cudi) dreht sie „The Farmer's Daughter“, einen heiteren Hardcorefilm, garantiert nicht für die ganze Familie. Von den Dreharbeiten sollen die zwei sehr alten Besitzer der Farm allerdings nichts mitbekommen, denn die Greise sind äußerst verstörte sowie verstörende Zeitgenossen, die den Plänen der horny Filmcrew wenig wohlwollend gegenüberstehen…
 

Um ein ausgedehntes Vorspiel geht es offensichtlich auch Regisseur und Autor Ti West. Wie schon in seinen Horror Perlen „The House of the Devil“ (2009) und „The Inkeepers“ (2011) legt er auch hier allergrößten Wert auf einen sorgfältigen, langsamen und geradezu genüsslich hinausgezögerten Aufbau. Da wird geteased, angedeutet und „geforeshadowt“ was das Zeug hält und die Spannungskurve dabei so beiläufig angezogen wie eine unbemerkt schwellende Erektion. Das absolute Highlight ist dabei eine faszinierende Sequenz, in der wir in einem majestätischen Top-Shot in aller Ruhe beobachten können, wie ein Krokodil sich langsam an Maxine annähert, ohne dass die etwas davon mitbekommen würde. Diese großartige Einstellung bringt eigentlich den ganzen Film auf den Punkt, der immer dann am stärksten ist, wenn er seine Figuren wie in Zeitlupe in die Falle laufen lässt, von der die Armen noch gar nichts wissen können.

Doch irgendwann endet auch die längste Tantra-Massage und es geht an den Höhepunkt. Und da wir uns hier in einem Horror-Film, genau genommen in einem relativ klassischen Slasher befinden, suppt und splattert es dann im letzten Drittel auch ganz ordentlich, was Genre-Fans durchaus zufriedenstellen sollte. Das ist anständig gemacht und angenehm analog getrickst, hat ein, zwei schön blutige Einfälle und Überraschungen parat, ist aber wesentlich weniger durchdacht und hochwertig als der soghafte Aufbau der ersten Hälfte.
 

Vielleicht hängt das jedoch auch damit zusammen, dass dem absoluten Ausnahmestudio A24 mittlerweile ein so über-kreativer und einzigartiger Ruf vorauseilt, dass man zu Beginn die ganze Zeit rätselt, welche weitere Ebene oder welcher doppelte Boden hier noch enthüllt werden wird. Doch die Überraschung ist, dass es keine Überraschung gibt. „X“ ist wirklich „nur“ ein lupenreiner Slasher, der die Tropes des Genres gerne bedient und in Look und Feel überdeutlich dem legendären „The Texas Chainsaw Massacre“ (1974, Regie: Tobe Hooper) nachempfunden ist.

Das ist natürlich per se nichts Schlechtes, nur gut zu wissen, um die eigene Erwartungshaltung anzupassen. Hier geht es weniger um das Was als um das Wie. Handwerklich ist der Film dementsprechend auch auf einem sehr starken Level: die detailverliebte Ausstattungs- und Kostümarbeit, der körnige, stilbewusste Retro-Look und das überdurchschnittliche Schauspielniveau treffen allesamt genau den richtigen Ton. Allein die selbstreferentielle erste Einstellung, die direkt nach dem A24-Logo ein „hipsteriges“ 4:3-Bild vorgaukelt, nur um dann in einer Kamerafahrt zu offenbaren, dass die Ränder des Breitbildes von Toren verdeckt waren, ist schon den Kinoeintritt wert. Und wer bei der greisen Serienmörderin ganz genau hinguckt, kann vielleicht noch einen weiteren Meta-Gag entdecken, der an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Als Tipp nur so viel: Ti West hat die Fortsetzung zu „X“ back-to-back bereits abgedreht und als Prequel angekündigt. Trotzdem bleibt der größte Name in der Castliste dem „Pearl“ betitelten Streifen erhalten…


Spielereien wie diese sind nur ein Teil der Gründe, warum Ti West mit A24 zusammengearbeitet hat und man „X“ zum Beispiel nicht mit einem Jump-Scare-Schocker aus der Blumhouse-Schmiede verwechseln könnte. Zum einen ist es die enorme Liebe zum Detail und den Figuren, die hier jederzeit spürbar ist. Diese entsprechen zwar im weitesten Sinne Stereotypen, müssen sich jedoch nie wie solche verhalten und unterscheiden sich in Ansichten, Kleidung und Dialogen immer wieder fundamental davon, was man von diesen Typen üblicherweise erwarten würde. Bestes Beispiel dafür sind die beiden Killer, denen mit enorm viel Empathie für ihr Leiden und ihre Beweggründe begegnet wird. Auch wenn ihr hohes Alter und das resultierende abstoßende Äußere definitiv für Schocks und Ekel-Momente genutzt werden, inszeniert West die Beiden an anderen Stellen mit sehr viel Zärtlichkeit und einer durchaus ernstgemeinten Nachdenklichkeit über das Tabu-Thema Lust und Begehren im Alter.

Zum anderen ist der Film generell sehr daran interessiert, diverse Denkanstöße über Sex, Geschlechterrollen und Doppelmoral zu liefern. Auffällig ist beispielsweise, dass entgegen den Horror-Konventionen eben gerade nicht die sexuell aktivsten Figuren als erste sterben müssen. Stattdessen illustrieren die Gespräche und Dynamiken unter den experimentierfreudigen Erregungskünstlern ein modernes Verständnis von Sexualität, das man wohl am ehesten mit dem Mode-Begriff „Sex-Positivity“ beschreiben könnte.
 

All das macht aus „X“ einen sehr interessanten, atmosphärischen, detailverliebten und stimmigen Slasher, der Genre-Konventionen gleichzeitig bedient, aber auch reflektiert. Das Finale kann trotz einer netten Schlusspointe nicht an den Beginn anknüpfen und hartgesotteneren Horror-Fans könnte das Ganze vielleicht etwas zu langsam und zu wenig schweißtreibend sein, aber wie man in den 70ern noch wusste: manchmal ist das Vorspiel eben geiler als der Höhepunkt.

Bilder: Copyright

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