Wir sind was wir sind

Originaltitel
Somos lo que hay
Land
Jahr
2010
Laufzeit
90 min
Genre
Release Date
Bewertung
5
5/10
von René Loch / 18. Juli 2011

Im Vorfeld des Kinostarts von "Wir sind was wir sind" liest man, dieser Film leiste für das Kannibalismus-Genre das, was "So finster die Nacht" für das Vampir-Genre geleistet habe. Und so ganz fern liegt ein Vergleich mit der schwedischen Arthouse-Perle aus dem Jahr 2008 sicher nicht, sind es doch beides Filme, in denen es nicht primär darum geht (gehen soll), dass ihre Protagonisten eben Vampire, beziehungsweise Kannibalen sind.

Die intensive Eröffnungssequenz des mexikanischen Beitrags "Wir sind was wir sind" scheint die Vorschusslorbeeren auch gleich zu rechtfertigen: Ein Mann im mittleren Alter schleppt sich durch ein modernes Einkaufszentrum. Er hält sich seinen Bauch, es geht ihm sichtbar schlecht. Vor einer Schaufensterpuppe bleibt er stehen, hinterlässt Fingerabdrücke am Glas und wird rasch vertrieben. Kurz darauf bricht der Mann zusammen, spuckt schwarze Flüssigkeit aus, krümmt sich vor Schmerzen und bleibt schließlich reglos liegen. Zwei Personen entfernen den Mann unverzüglich, eine dritte reinigt die Stelle - es wirkt wie Routine. Wenige Sekunden später weist nichts mehr auf das tragische Ableben des Mannes hin und zwei junge Frauen schlendern fröhlich über den Platz.
Wie sich in den darauffolgenden Minuten herausstellen wird, war dieser Mann das Oberhaupt einer Kannibalen-Familie. Er hinterlässt eine Frau und drei Kinder im Teenager-Alter, deren Aufgabe es nun ist, Frischfleisch heranzukarren. Dem ältesten Sohn obliegt diese überlebenswichtige Pflicht, doch sträubt er sich noch dagegen. Ein erster Versuch, gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder ein obdachloses Kind aus einer Gruppe heraus zu entführen, scheitert kläglich. Doch "das Ritual" verlangt ein Opfer. Die Zeit drängt und der nächste Versuch muss von Erfolg gekrönt sein.

Um mit "Wir sind was wir sind" warm werden zu können, ist es unabdingbar, dessen Prämisse zu akzeptieren: Die vierköpfige Familie ernährt sich von Menschenfleisch und zwar ausschließlich von diesem. "Kauft euch halt mal ein Huhn" ist kein adäquater Lösungsvorschlag. Als problematisch erweist sich jedoch, dass es für den Zuschauer kaum möglich ist, sich auch nur ansatzweise auf die Seite der "Täter" zu schlagen. Während die kleine Eli aus "So finster die Nacht" ebenso wie ihr Vater sichtbar unter den Folgen ihrer Taten zu leiden hatten, erscheint der jüngere Bruder in diesem Film als sadistisches Arschloch, das einer Prostituierten, die als Opfer auserkoren wurde, vor dem Gemetzel noch breit grinsend an die Brüste grabscht. Das mag womöglich realistischer sein, ist jedoch nicht die Form von Realismus, die einem Film gut tut.
So schaut man letztlich sehr distanziert vier Menschen zu, wie sie sich ziemlich dämlich bei ihrem Treiben anstellen, und empfindet dabei vor allem Mitleid für deren Opfer. Ob das die Intention von Autor und Regisseur Jorge Michel Grau gewesen ist, erscheint zweifelhaft. Die fast schon wahnhaften Verweise auf "das Ritual" seitens der Mutter, die keine tiefere Bedeutung erhalten, sind ebenfalls wenig hilfreich.

Hat man nicht nur akzeptiert, dass die Protagonisten Menschen fressen, sondern auch, dass man dafür nur wenig Empathie aufbringen kann, treten doch einige positive Aspekte ans Licht. Die vier Hauptdarsteller spielen überzeugend in einer Geschichte, die sich nicht nur auf das Thema "Versorgungsengpässe" konzentriert. "Wir sind was wir sind" erzählt auch von einer gefühllosen Gesellschaft, in der minderjährige Straßenmädchen, die korrupten Cops fürs sexuelle Vergnügen angeboten werden, zum Alltag gehören. Die zunehmenden Fälle von Kannibalismus erhalten einen ganz realen Hintergrund: Die Menschen können sich ihr Essen ganz einfach nicht mehr leisten.
Prinzipiell interessant ist auch die Konstellation innerhalb der Familie, in der nach dem Tod des Vaters die Machtfrage zwischen der Mutter und dem älteren Bruder entbrennt. Derweil treten zwischen der Tochter und dem jüngeren Bruder sexuelle Spannungen zu Tage, die auch der Mutter nicht verborgen bleiben.
Allerhand Konfliktpotential also, welches in letzter Konsequenz ungenutzt bleibt und durch vermeintlich schockierende Ausbrüche von Gewalt erdrückt wird. Diese geschehen immer nach dem gleichen Muster und sind so berechnend auf "Schock" getrimmt, dass sich ihre Wirkung ins ganze Gegenteil verkehrt. Manchmal ist das Drehbuch auch einfach haarsträubend dämlich, beispielsweise wenn der ältere Bruder ein Opfer organisiert, dieses dann aber aufgrund anderer Dinge, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, kurzerhand vergisst. Die einzige im positiven Sinn wirklich nennenswerte Szene der zweiten Filmhälfte ist ein Akt der Menschlichkeit, der sich erst im Nachhinein als ein solcher entpuppt. Dummerweise macht sich Regisseur Grau diesen vermeintlich guten letzten Eindruck selbst wieder kaputt - mit einem denkbar platten Schlussbild, das einen einst interessanten, ambitionierten Film final in die Belanglosigkeit überführt.

Und der direkte Vergleich mit "So finster die Nacht"? Der Vampirfilm ist intelligenter, gewährt einen tieferen Einblick in das Innenleben seiner beiden verletzlichen wie gewalttätigen Protagonisten und funktioniert als Genrefilm genauso gut wie als Coming-of-Age-Drama. "Wir sind was wir sind" unterwirft sich zu sehr den Konventionen des Horror-Genres, um mehr sein zu können als ein schockierender Kannibalismus-Thriller (der nur selten schockiert). Dem Kauf eines Kino-Tickets für die Kannibalen ist es also vorzuziehen, "So finster die Nacht" auf DVD zu sichten oder - falls schon geschehen - lieber auf dessen offenbar gelungenes US-Remake "Let Me In" zu warten.


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