Die englische Küste im Herbst.
Wenn es nicht gerade in Strömen regnet, ist es kurz davor, und
die dichte Wolkendecke am Himmel lässt keinen Sonnenstrahl durch.
Mitten in diesem verwitterten Nirgendwo steht ein kleines Haus, das
so weit weg ist von jeglicher Zivilisation, daß darin so etwas
wie ein unabhängiges Universum entsteht. Eine vierköpfige
Familie fristet hier, nach dem kürzlichen Umzug von London, ein einfaches,
harmonisches Dasein: Mutter, Vater, der 15jährige Tom und seine
drei Jahre ältere Schwester Jessie. Als die hochschwangere Mutter
ihre Wehen bekommt, baut die ganze Familie auf regennasser Straße
einen Unfall, aber niemand wird verletzt, und das Baby noch am Unfallort
geboren. Die Familie ist glücklich und zufrieden. Eine Vertrautheit,
wie sie nur entstehen kann, wenn man nichts anderes hat als sich selbst,
lullt auch den Zuschauer ein in ein wohliges Gefühl der Geborgenheit
inmitten dieses stürmischen Szenarios. Doch der Schein trügt.
Als
Tom eines Nachmittags vom Einkaufen nach Hause kommt, meint er durch
das Badezimmerfenster einen intimen Kontakt zwischen dem Vater und
Jessie gesehen zu haben. Und auch wenn seine Schwester das noch so
überzeugend leugnet, da war was. Tom wird seinem Vater gegenüber
zusehends skeptischer, er forscht ihm und seiner Schwester hinterher,
bis sich sein Verdacht auf grausamste Weise erhärtet.
„The war zone“ ist das Regiedebüt des Indie-Helden Tim Roth („Reservoir
Dogs“, „Pulp Fiction“), der sogleich eine Arbeit abliefert, die in
ihrer handwerklichen Feinheit und Subtilität an große Namen
wie Ingmar Bergman erinnert, und auch genauso schwer zu schlucken
ist. Fernab jeglicher Klischeebildung oder filmischem Stereotyp-Denken
konstruiert Roth auf der Grundlage des von Alexander Stuart (basierend
auf seinem eigenen Roman) verfassten Drehbuchs eine Charakterkonstellation,
die so nahe an einer wirklichen Familie und wirklichen Konflikten
dran ist, wie ein Film nur sein kann. Und das ist gerade bei dem kontroversen
Thema Inzest eine ganz enorme Leistung: Andere filmische Thematisierungen
auf RTL-Fernsehfilm-Niveau treten nur allzu gerne die psychologische
Unternote breit, ergötzen sich in der vielschichtigen „Motivation“,
die zu Inzest führt, durchleuchten die emotionalen Verwirrungen
der Figuren, und bleiben doch immer an oberflächlichen Populär-Psychologie-Klischees
kleben. „The war zone“ ist anders: Inzest ist hier keine Problematik,
sondern ein Ereignis, welches das Leben aller Involvierten total zerstört.
Hier gibt es kein halbseidenes Psycho-Gebabbel, keine pseudo-tiefsinnigen
Aussprachen, sondern Charaktere, die mit sich selbst und ihrer Situation
genauso wenig klar kommen, wie wahrscheinlich jeder normale Mensch.
Genau
hier liegt der Knackpunkt, der „The War zone“ einerseits zu einem
selten wahrhaftigen, schmerzlich nahegehenden und enorm beeindruckenden
Film macht, andererseits aber auch eine „handelsübliche“ Auseinandersetzung
sehr schwer macht: Denn das Entscheidende ist die verzweifelte, verwirrte,
zeitweise ziellose Verarbeitung der Situation durch Jessie und Tom,
ein Prozess, der zu keinem Zeitpunkt über Dialoge läuft,
sondern sich über viele Szenen hinzieht, die anfangs oft unmotiviert
und konzeptlos erscheinen. Bis deutlich wird, daß dies nichts
weiter ist als ein Spiegelbild der inneren Zerissenheit der beiden
Teenager. Und das ist nur konsequent: Sie sind mit einer Situation
konfrontiert, für die es keine einfachen Lösungen gibt.
Ein Film, der dieses Thema ernst nimmt und angemessen behandeln will,
kann nichts anderes tun, als diesen grausamen Konflikt genau so zu
verdeutlichen. Schon allein deshalb ist „The War zone“ der erste Film
über Inzest, bei dem man nicht das Gefühl hat, alles würde
theatralisiert.
Es
ist kaum zu glauben, wie viele psychologische Nuancen Einzug in die
Handlung finden, ohne daß auch nur ein einziges Mal darüber
gesprochen wird: Warum Tom’s Mißtrauen bei der Mutter nicht
auf Aufmerksamkeit stößt, wie Jessie zum einen sich, zum
anderen ihren Bruder zu befreien versucht, wieso der Vater einerseits
ein liebevolles und fürsorgliches Familienoberhaupt sein kann
(und auch wirklich ist), andererseits aber eine verabscheuungswürdige
Bestie, dies alles findet ausreichend Platz, ohne daß dem Zuschauer
eine endgültige Antwort als die einzig richtige Erklärung
aufgedrückt wird. Es ist nicht nur beeindruckend, sondern auch
sehr mutig, daß Roth sich an einer so freien und ungebundenen
Erzählung versucht. Es ist noch viel beeindruckender, daß
es ihm auf ganzer Linie gelingt.
„The
War zone“ ist ohne Frage einer der besten Filme des Jahres, dank einer
grandiosen Inszenierung, wahren Wundern von Schauspielern, einer unglaublich
intensiven Bildsprache, und geradezu schmerzhafter Ehrlichkeit. Dennoch
ist er nicht bedingungslos jedermann zu empfehlen: Wer nicht bereit
ist, sich mit vollem (emotionalem) Einsatz auf einen Film einzulassen,
der einen garantiert nicht mit einem Gefühl der Zufriedenheit
entlassen wird, tut gut daran, gar nicht erst rein zu gehen. „The
War zone“ fällt eindeutig in die Kategorie „schwieriger Film“,
und wer das nicht ab kann, kann das nicht ab. Den anderen sei gesagt:
Es lohnt sich, aber macht euch auf eine qualvolle Erfahrung gefasst.
Originaltitel
The War Zone
Land
Jahr
1999
Laufzeit
99 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
Neuen Kommentar hinzufügen