The War Zone

Originaltitel
The War Zone
Jahr
1999
Laufzeit
99 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 23. Dezember 2010

Die englische Küste im Herbst. Wenn es nicht gerade in Strömen regnet, ist es kurz davor, und die dichte Wolkendecke am Himmel lässt keinen Sonnenstrahl durch. Mitten in diesem verwitterten Nirgendwo steht ein kleines Haus, das so weit weg ist von jeglicher Zivilisation, daß darin so etwas wie ein unabhängiges Universum entsteht. Eine vierköpfige Familie fristet hier, nach dem kürzlichen Umzug von London, ein einfaches, harmonisches Dasein: Mutter, Vater, der 15jährige Tom und seine drei Jahre ältere Schwester Jessie. Als die hochschwangere Mutter ihre Wehen bekommt, baut die ganze Familie auf regennasser Straße einen Unfall, aber niemand wird verletzt, und das Baby noch am Unfallort geboren. Die Familie ist glücklich und zufrieden. Eine Vertrautheit, wie sie nur entstehen kann, wenn man nichts anderes hat als sich selbst, lullt auch den Zuschauer ein in ein wohliges Gefühl der Geborgenheit inmitten dieses stürmischen Szenarios. Doch der Schein trügt.
Als Tom eines Nachmittags vom Einkaufen nach Hause kommt, meint er durch das Badezimmerfenster einen intimen Kontakt zwischen dem Vater und Jessie gesehen zu haben. Und auch wenn seine Schwester das noch so überzeugend leugnet, da war was. Tom wird seinem Vater gegenüber zusehends skeptischer, er forscht ihm und seiner Schwester hinterher, bis sich sein Verdacht auf grausamste Weise erhärtet.

„The war zone“ ist das Regiedebüt des Indie-Helden Tim Roth („Reservoir Dogs“, „Pulp Fiction“), der sogleich eine Arbeit abliefert, die in ihrer handwerklichen Feinheit und Subtilität an große Namen wie Ingmar Bergman erinnert, und auch genauso schwer zu schlucken ist. Fernab jeglicher Klischeebildung oder filmischem Stereotyp-Denken konstruiert Roth auf der Grundlage des von Alexander Stuart (basierend auf seinem eigenen Roman) verfassten Drehbuchs eine Charakterkonstellation, die so nahe an einer wirklichen Familie und wirklichen Konflikten dran ist, wie ein Film nur sein kann. Und das ist gerade bei dem kontroversen Thema Inzest eine ganz enorme Leistung: Andere filmische Thematisierungen auf RTL-Fernsehfilm-Niveau treten nur allzu gerne die psychologische Unternote breit, ergötzen sich in der vielschichtigen „Motivation“, die zu Inzest führt, durchleuchten die emotionalen Verwirrungen der Figuren, und bleiben doch immer an oberflächlichen Populär-Psychologie-Klischees kleben. „The war zone“ ist anders: Inzest ist hier keine Problematik, sondern ein Ereignis, welches das Leben aller Involvierten total zerstört. Hier gibt es kein halbseidenes Psycho-Gebabbel, keine pseudo-tiefsinnigen Aussprachen, sondern Charaktere, die mit sich selbst und ihrer Situation genauso wenig klar kommen, wie wahrscheinlich jeder normale Mensch.
Genau hier liegt der Knackpunkt, der „The War zone“ einerseits zu einem selten wahrhaftigen, schmerzlich nahegehenden und enorm beeindruckenden Film macht, andererseits aber auch eine „handelsübliche“ Auseinandersetzung sehr schwer macht: Denn das Entscheidende ist die verzweifelte, verwirrte, zeitweise ziellose Verarbeitung der Situation durch Jessie und Tom, ein Prozess, der zu keinem Zeitpunkt über Dialoge läuft, sondern sich über viele Szenen hinzieht, die anfangs oft unmotiviert und konzeptlos erscheinen. Bis deutlich wird, daß dies nichts weiter ist als ein Spiegelbild der inneren Zerissenheit der beiden Teenager. Und das ist nur konsequent: Sie sind mit einer Situation konfrontiert, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Ein Film, der dieses Thema ernst nimmt und angemessen behandeln will, kann nichts anderes tun, als diesen grausamen Konflikt genau so zu verdeutlichen. Schon allein deshalb ist „The War zone“ der erste Film über Inzest, bei dem man nicht das Gefühl hat, alles würde theatralisiert.
Es ist kaum zu glauben, wie viele psychologische Nuancen Einzug in die Handlung finden, ohne daß auch nur ein einziges Mal darüber gesprochen wird: Warum Tom’s Mißtrauen bei der Mutter nicht auf Aufmerksamkeit stößt, wie Jessie zum einen sich, zum anderen ihren Bruder zu befreien versucht, wieso der Vater einerseits ein liebevolles und fürsorgliches Familienoberhaupt sein kann (und auch wirklich ist), andererseits aber eine verabscheuungswürdige Bestie, dies alles findet ausreichend Platz, ohne daß dem Zuschauer eine endgültige Antwort als die einzig richtige Erklärung aufgedrückt wird. Es ist nicht nur beeindruckend, sondern auch sehr mutig, daß Roth sich an einer so freien und ungebundenen Erzählung versucht. Es ist noch viel beeindruckender, daß es ihm auf ganzer Linie gelingt.
„The War zone“ ist ohne Frage einer der besten Filme des Jahres, dank einer grandiosen Inszenierung, wahren Wundern von Schauspielern, einer unglaublich intensiven Bildsprache, und geradezu schmerzhafter Ehrlichkeit. Dennoch ist er nicht bedingungslos jedermann zu empfehlen: Wer nicht bereit ist, sich mit vollem (emotionalem) Einsatz auf einen Film einzulassen, der einen garantiert nicht mit einem Gefühl der Zufriedenheit entlassen wird, tut gut daran, gar nicht erst rein zu gehen. „The War zone“ fällt eindeutig in die Kategorie „schwieriger Film“, und wer das nicht ab kann, kann das nicht ab. Den anderen sei gesagt: Es lohnt sich, aber macht euch auf eine qualvolle Erfahrung gefasst.


10
10/10

Ich habe den Film kürzlich im Fernsehen und würde ihn gerne noch einmal sehen wenn möglich auf DVD und auf Deutsch.Wenn jemand den Film hat oder esorgen kann bitte melden.Danke

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