Waking Life

Originaltitel
Waking Life
Land
Jahr
2001
Laufzeit
99 min
Release Date
Bewertung
10
10/10
von Frank-Michael Helmke / 23. Dezember 2010

Als im März dieses Jahres zum ersten Mal ein Oscar für den besten Animations-Spielfilm vergeben wurde, war der verdiente Sieger nicht einmal nominiert. Während die drei vorgeschlagenen Werke "Shrek", "Die Monster AG" und "Jimmy Neutron" zwar gute, aber nur bedingt innovative Arbeit geleistet hatten, war Richard Linklater mit seinem neuen Projekt "Waking Life" vollkommen neue Wege gegangen - und wurde dafür komplett ignoriert. Ein weiterer Beweis dafür, dass die veraltete Oscar-Akademie schon lange ihr Auge für wirklich großartige Filmarbeit verloren hat. Wenn sie es denn je hatte.
"Waking Life" ist ein Animationsfilm, aber da hört die einfache Klassifizierung auch schon auf. Unmöglich in ein Genre einzuordnen, ist dieses Werk auch mit anderen Animationsarbeiten nicht zu vergleichen. Das liegt schon allein an der Herstellungsweise: Linklater filmte per Digitalkamera "normale" Sequenzen mit richtigen Darstellern, übergab dieses Material dann einem ganzen Haufen an Animationskünstlern, die den gesamten Film quasi nachzeichneten - jede Sequenz von einem anderen Künstler. Das Endergebnis sieht anders aus als so ziemlich alles, was man bisher im Kino gesehen hat, und das hat gute Gründe. Denn das hier ist kein normaler Film, und es geht auch nicht um normale Dinge.
"Waking Life" ist ein Film über Träume. Über Leben. Über Tod. Und darüber, dass dies alles irgendwie zusammenhängt, oder vielleicht sogar das selbe ist. Der Hauptcharakter (gespielt von Wiley Wiggins aus Linklater's "Dazed and confused", in diesem Film namenlos wie alle Figuren) bewegt sich durch eine Reihe von Unterhaltungen, in denen ein breites Spektrum an Menschen (von Wissenschaftlern und Philosophen bis hin zur Frau von nebenan) ihre Gedanken über Leben, Existenz und andere ähnlich greifbare Themen zum Besten geben. Geplagt wird er dabei von der wachsenden Erkenntnis, dass er sich in einem Traum befindet - und es aus unerfindlichen Gründen nicht schafft, aufzuwachen. Strukturell erinnert der Film dabei an Linklater's Erstling, "Slacker", der bis heute als einer der wichtigsten Independent-Filme der Neunziger gilt: Von einer kohärenten Handlung kann keine Rede sein, relativ verbindungslos wandert die Kamera von einer Szenerie zur nächsten. Es geht nicht um die Präsentation eines Plots, sondern um die Vorstellung von Ideen.
Wem das schon viel zu merkwürdig klingt, der ist in diesem Film wahrscheinlich falsch aufgehoben. "Waking Life" ist kein Film exklusiv für Philosophie-Studenten, aber eine gewisse Tendenz, in diese Richtung zu denken, muss man wohl schon mitbringen, um sich im Kino nicht schon nach wenigen Minuten ein wenig verloren und deplaziert vorzukommen. Wer sich allerdings auch nur wenige Male an einem schönen Sonntagnachmittag im Park ein paar lose wandernde Gedanken über Wahrnehmung, Realität und andere lustige Dinge gemacht hat, wird sich hier nicht nur zu Hause fühlen, sondern sicherlich auch einige eigene Ideen wiederfinden. Wer z.B. hat noch nicht versucht, seine Träume zu lenken, wenn es dafür eigentlich nur des Bewusstseins bedarf, dass man gerade träumt. Auch Julie Delpy und Ethan Hawke geben ein kurzes Gastspiel als die Hauptfiguren, die sie in Linklater's Wien-Romanze "Before sunrise" gespielt haben, um eine ihrer dortigen, thematisch vertrauten Gespräche fortzusetzen. "Waking Life" ist nicht abgehoben. Er bündelt lediglich die Art von Alltäglichkeiten, die mit dem Alltag nicht mehr viel zu tun haben.
Und selbst wenn man als Zuschauer dem Ideen-Karussell nicht mehr folgen kann oder mag, so kann man sich immer noch an der faszinierenden Animationsarbeit erfreuen. Da jede der über 30 Sequenzen des Films von einem anderen Künstler bearbeitet wurde, wechselt auch permanent der Zeichenstil - allerdings nicht in solch dramatischen Schritten, dass es verwirrend wirkt. Bewusst hat man sich dabei gewisse zeichnerische Freiheiten genommen: Es werden nicht stur Linien nachgezogen, sondern mit den Bildern gespielt, während viele Elemente nur lose angedeutet werden. Konsequenz: Die Hintergründe sind in ständiger Bewegung, wie in einem lebendigen Gemälde kann man dem Kunstwerk quasi bei der Entstehung zusehen - und ist sich zum ersten Mal bei einem Animationsfilm wirklich bewusst, 25 Bilder pro Sekunde zu sehen. All dies fördert natürlich das Grundkonzept von "Waking Life", bei dessen Betrachtung sich der Zuschauer bald ebenso träumend wähnt wie die Hauptfigur.

"Waking Life" ist einer dieser selten gewordenen Glücksmomente des Kinos, ein Film, der einfach komplett anders ist als alles andere, was man bisher gesehen hat, weil er sich nicht scheut, die Möglichkeiten seines Mediums auszunutzen - auch wenn das vorher noch keiner gemacht hat. Ein Film, der einem wahrlich den Kopf frei spült und zumindest für eine Weile die Augen und den Geist ein wenig weiter öffnet für all das, was um uns herum vor sich geht. Ein Film, der das Erleben so intensiv gestaltet, dass man sich in einem paradoxen Dilemma wiederfindet, wo man sich wünscht, möglichst lange derart wach zu sein, aber es gleichzeitig nicht abwarten kann, zu schlafen. Und zu träumen.


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