Schnee in der Neujahrsnacht

Originaltitel
Schnee in der Neujahrsnacht
Jahr
1999
Laufzeit
100 min
Genre
Release Date
Bewertung
6
6/10
von Frank-Michael Helmke / 17. März 2011

 

„We are all in the gutter. But some of us are looking at the stars.“

Mit diesem Zitat von Oscar Wilde beginnt „Schnee in der Neujahrsnacht“, ein weiterer dieser in letzter Zeit ungemein angesagten „Viele verrückte Dinge, die alle in einer Nacht passieren“-Filme. Wenn ein Film mit solch einem Zitat beginnt, dann bestehen zwei Möglichkeiten: Erstens, es handelt sich um einen tiefsinnigen, vielschichtigen und subtilen Streifen über die Natur des Menschen (also die Art Filme, die deutsche Regisseure, sorry, leider so gut wie nie hinbekommen). Zweitens, das Zitat bleibt das einzig tiefsinnige, weil es nur eine komplizierte Umschreibung der recht einfachen Botschaft des Films darstellt. Treffer.

Im Gegensatz zu anderen Filmen mit ähnlichem Grundkonzept kann sich „Schnee in der Neujahrsnacht“ beherrschen, was die Plot-Vielfalt und die vorkommenden Charaktere betrifft. Dabei werden auch nicht mühselig alle Handlungen miteinander verstrickt, sondern das meiste hübsch getrennt gehalten. Einziges Verbindungsglied ist Commander Zippo, alleiniger Moderator des „kleinsten Radio-Senders der Welt“ (ein klugscheißender Anrufer meint: „Ich kenne einen Sender in Dublin, der ist noch viel kleiner“), der den ganzen Tag philosophische Weisheiten und Geschichten über den Äther bringt, und nur Vinyl spielt. Am Silvestertag 1999 macht er ab 12 Uhr mittags eine Countdown-Sendung, bis die große Zwei kommt. Zu seinen Hörern zählt u.a. der angegraute Ire (also aus Irland, nicht aus der Anstalt) Rory, der von seiner Frau verlassen wurde und sie daher als Ziel des letzten Eifersuchtsmordes dieses Jahrtausends ausgewählt hat; die einsame Nora, die zum ersten Mal seit drei Jahren einen zweiten Teller deckt, nicht wissend, daß sie heute zweimal Besuch bekommen wird, denn ihr heimlicher Verehrer will an diesem besonderen Abend auch endlich den Mut fassen; und Toto, gerade frisch aus dem Knast entlassen. Mit dem festen Ziel, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken, nimmt er einen Job als Busfahrer an, und darf direkt an Silvester arbeiten. Seine Ambitionen, der beste Fahrer Berlins zu werden, halten genau zehn Minuten. Dann läuft die hochschwangere Natalia vor seinen Bus. Die ist extra aus Russland angereist, um den Vater ihres Kindes zu finden. Dieser hat allerdings an diesem Abend wenig Verwendung für einen schwangeren One-Night-Stand, und schickt Natalia mit einer Flasche Champagner auf die Straße. Ihr Selbstmordversuch mißlingt dank der guten Reaktion von Toto. Und der Lebensmut kehrt auch schnell zurück, als die beiden bei einem so eben verstorbenen Fahrgast einen Koffer voll Koks finden. Als das Handy der Leiche klingelt, eröffnet sich plötzlich die Möglichkeit, eine halbe Millionen zu verdienen. Und praktischerweise sitzt am anderen Ende der Leitung Frank, mit dem Toto heute morgen aus dem Knast entlassen wurde.

Mal abgesehen von der Drogengeschichte ist ziemlich klar, worum es hier geht: Die Liebe. Und weil alle Beteiligten irgendwie vom Schicksal gebeutelt sind und niemand müde wird darauf hinzuweisen, daß dies die richtige Nacht für ein Wunder ist, wird auch ziemlich schnell klar, worauf das Wilde-Zitat vom Anfang anspielt: Wie scheiße es dir auch gehen mag, verlier nie die Hoffnung, denn das Glück ist vielleicht nur eine Nacht entfernt. Wie gesagt, sonderlich tiefsinnig ist das nicht.
Sonderlich einfallsreich allerdings auch nicht. Nach ca. zehn Minuten ist klar, wie der Film enden wird, und auch die gröberen Plotpunkte lassen sich bereits erahnen. Autor Stefan Kolditz hat sich auch nicht sehr viel Mühe gegeben: Schon in seiner Eröffnungsmoderation verkündet Zippo die an sich für ihn wenig interessante Tatsache, daß das Millenium-Baby gleichzeitig ein Millionen-Baby sein wird (weil der regierende Bürgermeister natürlich in der Stadtkasse eine Million zu viel hat, die er dem ersten Balg des Jahres genüßlich in den Schreihals wirft). Als zwanzig Sekunden danach der dicke Bauch Natalias ins Bild rückt, kann man sich mit einem unüberraschten Gähnen bereits entspannt zurücklehnen. Wenigstens wird man in den nächsten neunzig Minuten nicht viel nachdenken müssen. Daß Natalias Niederkunft eigentlich erst in vier Wochen sein soll, stört da nicht sonderlich, und fällt höchstens in die Kategorie „Das glaubt der Autor ja wohl selbst nicht“.
Für die abgedrehteren Szenen darf indes ein Braunbär sorgen, den ein weiterer Hörer von Zippo in einem plötzlichen Anfall von Tierschutz-Militantismus aus dem Zoo befreit hat. Bitte nicht nach Realismus fragen, denn alles, was mit diesem Bär passiert, ist absoluter Mumpitz und für nichts gut außer ein paar Lacher. Und den Gastauftitt von Oli P., den der Bär beim Pinkeln stört.

Trotz alledem ist „Schnee in der Neujahrsnacht“ durchaus schön anzusehen. Wenn die Spannung auch auf dem Nullpunkt bleibt, so stimmen zumindest die darstellerischen Leistungen. Jürgen Tarrach ist seit „Die Musterknaben“ auf den tapsigen, aber sympathischen Dickbauch festgelegt und braucht sich daher als Toto nicht sonderlich anstrengen, und auch die anderen nehmen ihre Rollen mit entspannter Leichtigkeit. Bei Hannes Jaenicke fragt man sich allerhöchstens, wie viele Klischees über einen einsamen Radio-Moderator dem Regisseur eigentlich eingefallen sind, seine Leistung ist aber kaum zu beanstanden.

Als offizieller filmischer Beitrag Deutschlands zur Jahrtausendwende ist „Schnee in der Neujahrsnacht“ wenig brauchbar, denn genaugenommen dient die Silvesternacht nur als Vehikel, um einige der schrägeren Geschehnisse zu erklären. Grundsätzlich könnte so ziemlich alles in diesem Film auch in jeder anderen Nacht des Jahres passieren. Das Timing passt aber dennoch, denn um sich in die richtige Stimmung für diesen Event zu bringen, ist der Film sicher ähnlich nützlich wie ein gemütliches Kaminfeuer. 
Was den magischen Zauber der Jahrtausendwende betrifft, so gibt es zwei Sorten von Menschen: Für die einen ist es eine Nacht wie jede andere, weil unsere Zeitrechnung eh total willkürlich ist und das nächste Millenium außerdem genau genommen erst 2001 beginnt. Für die anderen ist es die eine Nacht, in der im Prinzip alles passieren kann. Wer es für möglich hält, zum Jahreswechsel die Liebe seines Lebens zu finden, dem wird „Schnee in der Neujahrsnacht“ gefallen. Auf jeden Fall ist er der perfekte Film für die Weihnachtsferien: Nicht sehr tiefsinnig, nicht sehr ernsthaft, durchaus amüsant, und die Laune hebt er auch noch. Und nachher gehen wir noch schön einen Glühwein trinken. In diesem Film ist es sowieso viel zu warm für die Silvesternacht.
Bilder: Copyright

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