Es gibt sie noch: Lebensnahe Themen mit viel Potential für ein kluges, wahrhaftiges Drama, die noch nicht hundertmal abgegrast wurden. Und es gibt auch das noch: Junge, ambitionierte Filmemacher, die es mit den begrenzten Möglichkeiten einer deutschen Produktion schaffen, großes Kino zu erzeugen. Paradebeispiel: "Renn, wenn du kannst", der erste Kinofilm des jungen Regisseurs Dietrich Brüggemann, in dem er einen gänzlich unprätentiösen, sehr realistischen und darum umso mehr berührenden Blick auf das Leben eines Rollstuhlfahrers wirft.
Die Inspiration für diese Materie und der Wille, diese wirklich authentisch zu behandeln, kommen nicht von ungefähr: Brüggemann und seine schauspielernde Schwester Anna, die gemeinsam das Drehbuch verfassten, kennen dieses Leben hautnah, da ihre eigene Schwester im Rollstuhl sitzt. Da kann man sehr gut nachvollziehen, dass die beiden kein Interesse daran hatten, die Realität unnötig zu beschönigen und geheuchelten, lebensbejahenden Kitsch aufzufahren, ebenso wenig wie mitleidiges, gefühlsduseliges Betroffenheitskino. "Renn, wenn du kannst" ist gerade deshalb ein so starker Film, weil er die Dinge trocken und direkt zeigt und sich wohltuend davor hütet, seinen Protagonisten als einen Menschen zu zeigen, der den Zuschauern einfach nur 112 Minuten leidtun soll.
Da sind vor allem zwei Dinge vor: Das hervorragend geschriebene Drehbuch der Brüggemanns, und ihr Hauptdarsteller Robert Gwisdek. Der spielt den Rollstuhlfahrer Benjamin mit wundervoll lakonischem Humor als einen Menschen, der sich eine stoische Bärbeißigkeit für seinen Umgang mit der Welt angeeignet hat. Erfrischend unprätentiös versucht der Film nicht, seinen Rolli-Protagonisten als Gutmenschen zu inszenieren, den man bitte schön direkt mögen soll mit seinem harten Schicksal, für das der arme Bursche ja nix kann. Nein, zu Anfang darf man Benjamin und seinen arroganten Befehlston, mit dem er den ihn betreuenden Zivi herumkommandiert und raus schmeißt, ruhig für ein unsympathisches Arschloch halten. Man wird ihn als Zuschauer schon noch besser kennen und letztlich auch verstehen lernen.
Dafür ist Benjamins neuer Zivi da: Christian (Jacob Matschenz), der mit einer solch konsequent entspannten Lockerheit durchs Leben geht, dass Benjamins Provokationen und Sprüche ihn nicht aus der Ruhe bringen können - perfekter Nährboden für eine eigenwillige, niemals ausgesprochene aber doch schon bald spürbare Freundschaft. Kompliziert wird es, als die beiden die Bekanntschaft der Komplexe geplagten Cello-Studentin Annika (Anna Brüggemann) machen, sich mit ihr anfreunden und schließlich beide in sie verlieben. Eine Gefühlsverwirrung, die sich Benjamin lange und erfolgreich verboten hat, nur zu gut wissend, dass er keine Chance auf eine erfüllende Liebesbeziehung hat. Nun doch mit dieser Sehnsucht konfrontiert, gerät der vermeintlich so stoische Benjamin schließlich doch an seine größten Abgründe.
Das ist eine an sich sehr intime, introspektive Geschichte, die wie ein anspruchsvoller deutscher Fernsehfilm klingt. Dass daraus aber doch ein echtes Stück Kino geworden ist, ist eindeutig dem Talent seines Regisseurs zu verdanken, der sich zudem mit Alexander Sass einen Kameramann an die Seite geholt hat, der entscheidend dabei mithilft, aus einer vermeintlich kleinen Geschichte immer wieder große Bilder herauszuholen, die nach einer Leinwand verlangen und dort auch bestens aufgehoben sind. Den beiden gelingt eine sanft poetische Bildsprache, die ihren Film weit über die oftmals brave und biedere Inszenierung verkopfter TV-"Problemfilme" hinweg hebt.
Ähnliches gilt auch für die tollen Dialoge, die mit viel Tempo und Sprachwitz aufwarten und den Film trotz seines ernsten Themas immer wieder mit gelungenen Lachern auflockern können. Manchmal geht die geschliffene Verspieltheit der Dialoge zwar etwas weit und sie klingen überdeutlich wie schön auf dem Papier zurechtgelegt. Doch das ist angesichts der Spielfreude, mit der sie präsentiert werden, schnell verziehen. Und diese ist wirklich enorm: Das Darsteller-Trio Gwisdek, Brüggemann und Matschenz beweist hier nachhaltig, dass sie nicht ohne Grund zu Deutschlands bestbeschäftigten Jungschauspielern gehören - sie gehören schließlich auch zu den talentiertesten. Es ist eine der besonderen, subtilen Freuden dieses Films, zu sehen, wie hervorragend diese drei wirklich miteinander und nicht bloß nebeneinander spielen.
Laut einem gern und viel zitierten Spruch des legendären Hollywood-Regisseurs Howard Hawks ist das Rezept für einen großartigen Film denkbar simpel: "Two great scenes, no bad scenes." Schlechte Szenen hat "Renn, wenn du kannst" nicht, und die beiden herausragenden sind eindeutig: Zum einen jene Szene, in der Benjamin Sex haben will und der Film nicht davor zurückschreckt, wirklich ans Eingemachte zu gehen - hier wird ohne Beschönigung und entwaffnend ehrlich erklärt, wie Sex für und mit einem Rollstuhlfahrer abläuft, und wie schwer es ist, darin noch irgendetwas Romantisches oder Gefühlvolles zu sehen. Und zum anderen ist da die Szene, die Annikas Subplot um ihre Bühnenangst abschließt - als Cellistin hat sie lähmende Angst davor, alleine im Rampenlicht zu stehen, träumt aber zugleich davon, einmal das Cello-Solo in Brahms' Klavierkonzert Nr. 2 zu spielen. Wie dieses Dilemma in die Handlung des Films und das Beziehungsgefüge seiner Figuren eingebettet wird, ist höchst elegante Drehbuch-Kunst, und der Moment, als dieses Dilemma aufgelöst wird, ist in seiner meisterhaften Inszenierung und Ausführung wundervolle, pure Kinomagie.
Spätestens an dieser Stelle empfiehlt sich Dietrich Brüggemann nachdrücklich für Größeres, beweist sich als ein Regisseur, der nicht nur spritzige Dialoge inszenieren, sondern auch wahrlich großartige Bilder einzufangen versteht, und das nötige Fingerspitzengefühl aufbringt, um einen Film, dessen Thema nichts für einfache Lösungen ist, mehr als adäquat zu erzählen. Und wer solch ein schönes Schlussbild wie hier hinbekommt, der braucht auch überhaupt kein simples Happy End. Das kann schließlich jeder.
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