
Ein knittriger alter Mann, mit Hut und Trenchcoat, kommt aus der Maschine und betritt das Flughafengebäude. Aus dem allgemein herrschenden Presserummel lösen sich einige BKA-Leute und gehen auf ihn zu. "Baumgarten?", fragen sie ihn, "Friedrich Baumgarten?". Der alte Mann schüttelt den Kopf und krächzt widerwillig jene Worte durch die Ankunftshalle, die einen noch bis tief in die Nacht verfolgen werden: "Mengele... Doktor Josef Mengele!"
Mengele, der "Todesengel von Auschwitz", ist noch am Leben. Zumindest in Roland Richters Film "Nichts als die Wahrheit", denn in der Welt, die wir als real bezeichnen, starb der KZ-Arzt 1978 bei einem Badeunfall in Brasilien. Für seine Untaten - Hunderttausende Menschen soll er persönlich für die Gaskammern selektiert, ungezählte andere für perverse medizinische Experimente mißbraucht haben - mußte er sich nie vor einem Gericht verantworten. Nicht so in diesem Film - hier stellt sich Mengele (Götz George) freiwillig der deutschen Justiz, um endlich die "Wahrheit" zu erzählen. Was für ein Alptraum für die Gerichtsbarkeit - denn "sogar" diese Bestie hat Anspruch auf seine Bürger- und Menschenrechte, auf einen Verteidiger und einen fairen Prozeß.
Peter Rohm, Hobbyhistoriker und verhinderter Mengele-Biograph, von Profession aber Winkeladvokat, wird von Mengele persönlich dazu ausersehen, seine Verteidigung zu übernehmen. Und schon wieder rollen sich die Fußnägel auf - denn wer will schon für Mengele ein geringeres Strafmaß herausschinden? Zeugen der Verteidigung aufrufen? Daß Rohm (Kai Wiesinger) den Job tatsächlich übernimmt, gehört zu den Mysterien des Films, die sich erst ganz zum Schluß auflösen. Schon vorher aber zeigt sich, worauf der gepeinigte Anwalt sich da eingelassen hat.
"Nichts als die Wahrheit" ist ein Justizschinken. Große Teile des Films spielen sich im Gerichtssaal ab. Doch im Gegensatz zu anderen Vertretern dieses eigentlich typisch amerikanischen Genres findet diese Geschichte seine eigene Berechtigung für langwierige Verhandlungen. "Nichts als die Wahrheit" reißt mit, tritt immer wieder gegen die Hirnrinde und überfordert zuweilen. Das liegt weniger an der Regie Richters, diese ist eher im unteren Kompetenzdrittel einzuordnen. Vielmehr wäre da ein grandioses Drehbuch, das ein rasend schnelles intellektuelles Tempo vorlegt. Johannes Betz hat in seine Geschichte derart viele Verwicklungen eingefügt, daß der Zuschauer dann und wann aus der Kurve zu fliegen droht. Nicht zuletzt wirft der Film einige Perspektiven zum Thema "kollektive Täterschaft" auf, für die er erfolgreich neue Wege geht. Man braucht am Ende seine Zeit, um zu bemerken, auf welche Weise der Knoten platzt. Und er wird mit einem gewaltigen Knall platzen.
Um dem Film gerecht zu werden, muß aber vor allem die schauspielerische Leistung Götz Georges gewürdigt werden: Ob man ihn nun mag oder nicht, wo Kai Wiesinger solide Mimenarbeit hinlegt, ist George der Virtuose, ist er als Mengele beängstigend real. Allein das Spiel eines alten Mannes, ständig in ein Taschentuch sabbernd, ist sensationell. Optische nicht-Finessen wie eine allzu aufdringliche Maske fallen da kaum noch auf. "Schimanski" (ja, dieses greise Tier hat tatsächlich Schimanski gespielt!) zeigt hier auf umwerfende Art und Weise, daß er zu den besten deutschen Darstellern gehört.
Schade, daß "Nichts als die Wahrheit" bei allem Anspruch darauf verfällt, einige plumpe Holzhammermethoden einzusetzen, die der Film eigentlich nicht nötig hätte. Daß etwa Mengele in einem Glaskasten dem Verfahren beiwohnt, ist (siehe Eichmann, Mielke) nicht unrealistisch - daß er sich ganz in schwarz mit hochgezogenem Rollkragenpulli und kalkweiß geschminkt als Nicht-Mensch hochstilisiert, ist dagegen überflüssig und wenig authentisch. Ärgerlich auch die inszenierten Kunstgriffe - Rückblenden etwa - die der sonst eher puristischen Darstellungsweise im Wege stehen.
Ansonsten aber ist "Nichts als die Wahrheit" ein gelungenes Gedankenexperiment, eine Achterbahnfahrt der Perspektiven, die den Zuschauer so schnell nicht losläßt. Einer dieser Filme, nach dem bis zum gemeinsamen "Absacker" im Stammcafé nicht gesprochen werden muß.
Man fragt sich, was tatsächlich wäre, würde eine NS-Prominenz wie Mengele plötzlich vor der Tür des ausgehenden Jahrhunderts stehen. Das ist der Moment, wo man es wieder vor Augen hat: "Nichts als die Wahrheit" ist - leider - nur ein Film.
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