Nach seinem finanziell gescheiterten Versuch, das berüchtigte Woodstock-Festival nachzuerzählen ("Taking Woodstock"), meldet sich Ang Lee ("Tiger & Dragon", "Brokeback Mountain"), einer der vielseitigsten Regisseure der Gegenwart, mit einer bezaubernden und eindrücklichen 3D-Produktion zurück.
"Schiffbruch mit Tiger" basiert auf dem gleichnamigen Welt-Bestseller von Yann Martel und demonstriert, dass der gebürtige Taiwanese Lee immer noch zu den Besten seines Fachs gehört.
Ein fürchterlicher Sturm bringt einen großen Frachter auf dem Pazifik zum Sinken. Mit an Bord: Die Familie des jungen Inders Pi (Suraj Sharma) und die Tiere aus dem Zoo seines Vaters. Nachdem sie in Indien in eine finanzielle Notlage geriet, beschloss die Familie auszuwandern. Die Tiere aus dem Zoo sollten in Kanada verkauft werden, damit der Start in das neue Leben reibungsloser verläuft. Doch nun ist Pi nach dem Untergang der einzige Überlebende in einem Rettungsboot. Naja, nicht ganz. Auch ein ausgewachsener bengalischer Tiger mit dem kuriosen Namen Richard Parker ist an Bord. So beginnt für Pi ein doppelter Überlebenskampf – gegen den furchteinflößenden Fleischfresser, mit dem er im selben Boot sitzt, und gegen die unendliche Weite des Ozeans der er hilflos ausgeliefert ist.
"Schiffbruch mit Tiger" ist vordergründig die Abenteuergeschichte eines Schiffbrüchigen. Wie schon bei Tom Hanks in "Cast Away - Verschollen" sehen wir, wie jemand aus der zivilisierten Welt herausgerissen wird und sich unter extremen Bedingungen neu behaupten muss. Zusätzlich versteckt sich im Film noch eine spirituelle Parabel. So interessiert sich Pi als kleiner Junge für alle Religionen, die ihn umgeben. Er lässt sich taufen, betet fünfmal am Tag gen Mekka und kennt die Legenden von Vishnu und Shiva. Sein stets zweifelnder Vater, ein recht grob gezeichneter Rationalist, warnt seinen Sohn davor, allzu blind den Versprechungen der Religionen zu verfallen. Auf hoher See, in höchster Not, ringt Pi dann um die Antwort auf die Frage, ob es ein Miteinander von Glauben und Zweifel geben kann. Oder ob man sich entscheiden muss, um zu überleben.
Der große Teil des Films spielt auf dem Meer und ist nahezu stumm. Und es ist beeindruckend, wie der Schauspielanfänger Suraj Sharma in der Lage ist, diese Last tragen, eine Filmproduktion dieser Größenordnung quasi allein auf seinen Schultern zu schleppen. Sharma geht in seiner Rolle völlig auf und schafft es, die Anspannungen seiner Figur sehr überzeugend zu verkörpern. In dieser Hinsicht erinnert "Schiffbruch mit Tiger" weniger an Zemeckis' "Cast Away" als an "Alone Across The Pacific" des Japaners Kon Ichikawa von 1963. Es würde nicht wundern, wenn Lee gerade diesen Film als eine Art Blaupause für seine Literaturverfilmung im Hinterkopf mitlaufen ließ.
Doch trotz aller beeindruckenden Schauspielerleistung, die wahre Show hier sind die 3D-CGI-Effekte. Denn die computeranimierte Gestaltung von Wasser gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Effektspezialisten. Schließlich erscheint das Element im wahren Leben so vielfältig, dass es sich nur schwer berechnen lässt. Wenn es allein um die Bewältigung dieser Herausforderung geht, ist "Schiffbruch mit Tiger" ein Meisterwerk seiner Kunstform. Einmal peitscht ein tosender Sturm die Wellen wild und zerstörerisch über die Leinwand, dann wieder liegt das Meer verdächtig ruhig und glitzernd da wie ein Spiegel. Die andere Glanzleistung ist die Animation des Tigers Richard Parker. Wie sich sein Fell geschmeidig am Rückgrat biegt. Wie natürlich er durch das Boot schreitet - das hat man so wohl noch nicht gesehen.
Bei näherer Betrachtung sieht die dritte Dimension hier nicht nur gut aus, sie hat sogar einen entscheidenden erzählerischen Mehrwert. Und das ist bei den vielen Produktionen, die das 3D-Label vor sich hertragen, wahrlich eine Ausnahme. Ang Lee ermöglicht es durch die 3D-Technik, die paradoxe Situation des Protagonisten für den Zuschauer noch direkter erfahrbar zu machen, indem er den räumlichen Konflikt, der die Basis dieser ganzen Geschichte bildet, so effektiv verdeutlicht. Auf rein visuelle Weise bringt er das Wechselspiel von Weite und Enge zusammen. Pi erlebt mit Richard Parker auf dem kleinen Boot Momente beängstigender Klaustrophobie. Und dann zeigt die Kamera plötzlich die Umgebung, und wir sehen den Horizont über dem schweigenden, endlosen Meer. In diesen Augenblicken erkennt man die Größe des Films und seines Machers.
Das einzige, was an diesem höchst ambitionierten und enorm aufwendigen Projekt (der Roman galt wegen seiner fast komplett auf offenem Meer spielenden Handlung als nahezu unverfilmbar, weshalb sich die Realisierung der Filmadaption sieben Jahre lang hinzog) dann doch etwas stört ist die Konzeption des Drehbuchs von David Magee, der die Schockwirkung der Romanvorlage zugunsten eines möglichst großen Zielpublikums abschwächt. Wo der Roman für die schlussendliche Auflösung seiner Erzählung zwei mögliche Szenarien entwirft, die sich in Härte und Imaginationskraft nichts nehmen, entscheidet sich der Film ganz klar für eine Variante. Das Märchen triumphiert über die rationale Sichtweise der Ereignisse.
Diese Entscheidung würde vielleicht nicht weiter stören, wenn sie nicht die ganze Erzählung von vornherein beschränken würde. Immer wenn die häufig stummen Momente auf dem Meer dem Zuschauer den Raum für Deutungen geben, wird prompt die Interpretation des Gesehenen geliefert (oft in der Form von Pis Off-Kommentar). Eine merkwürdige Selbstbeschneidung, wenn man bedenkt, dass gerade die Wahlmöglichkeit, ob man die Geschichte nun glauben will oder nicht, einen der wichtigsten Reize dieser ganzen Erzählung ausmachte.
Doch "Schiffbruch mit Tiger" ist derart erzählfreudig und visuell vereinnahmend, dass man sich nur schwer Lees Vision des Buches widersetzen kann. Der Film ist zwar nicht das große Meisterwerk, das viele Kollegen darin sehen. Doch in seinen stärksten Momenten demonstriert Ang Lee hier die Kunst des Filmemachens auf ganz hohem Niveau, so dass man sich gegenüber dramaturgischen Unausgewogenheiten durchaus gnädig zeigt. Visuell jedenfalls ist „Schiffbruch mit Tiger“ das vielleicht berauschendste Erlebnis dieses Kinojahres.
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