Einer Sache kann man bei Edgar Wright grundsätzlich sicher sein: Dieser Regisseur macht keine formelhaften, durchschnittlichen Filme. Von „Shaun of the Dead“ über den rasanten „Baby Driver“ bis zur völlig überdrehten Comic-Verfilmung „Scott Pilgrim“ - jedes Werk ist ein Unikat und bricht mit vertrauten Sehgewohnheiten. Beim Massenpublikum hat man es mit solch einem Ansatz aber naturgemäß schwer, denn wer nicht so recht weiß, was er von einem bestimmten Film zu erwarten hat, geht im Zweifelsfall eher nicht dafür ins Kino. Ein Schicksal, dass nach dieser Theorie erst recht Wrights aktuellem „Last Night in Soho“ drohen könnte. Denn hier ist selbst nach gut der Hälfte der Spielzeit noch überhaupt nicht absehbar, wohin sich die Geschichte entwickeln wird und in welchem Genre wir uns denn nun befinden? Drama, Coming of Age-Komödie, Horrorfilm?
Alles zutreffend, und das macht es dann auch zu einer recht kniffligen Aufgabe über diesen Film zu sprechen ohne zu viel zu verraten und vorweg zu nehmen. Daher an dieser Stelle zur Story nur soviel: Die gerade erst vom Land ins turbulente London gezogene Modedesign-Studentin Eloise (Thomasin McKenzie aus „Jojo Rabbit“) tut sich im Kreis all der hippen und erlebnishungrigen Kommilitonen zunächst schwer, sucht sich ein eher ruhig liegendes Zimmer bei einer schrulligen Vermieterin und träumt sich dort nachts immer öfter ins Swinging London der 60er Jahre, wo sie die Geschichte der aufstrebenden Barsängerin Sandy (Anya Taylor-Joy aus „Split“ und „Damengambit“) beobachtet. Aber sind das wirklich nur Träume? Ist es nicht bedenklich, dass Eloise darin praktisch mit Sandy verschmilzt und alles aus deren Sicht hautnah miterlebt? Und ist deren Leben tatsächlich so toll und beneidenswert wie es zunächst den Anschein hat?
„Last Night in Soho“ ist nicht nur ein cleveres, facettenreiches Verwirrspiel, dessen Fortgang kaum vorherzusehen ist. Es ist auch ein Rausch der Bilder, Kulissen und Kostüme, bei denen der Film verschiedene Zeitepochen vermischt und zwischen seinen beiden weiblichen Hauptfiguren derart elegant hin und her-wechselt, dass es bemerkenswert echt und natürlich wirkt.
Gleichzeitig betreibt Wright aber keinesfalls eine Verklärung dieser von vielen so geliebten Epoche, sondern reißt ganz im Gegenteil Stück für Stück deren schöne Fassade ein und offenbart die dahinter liegenden Abgründe. Jedes Detail ist bedeutend, jeder im Hintergrund gespielte Popsong hat seinen Sinn und all das kulminiert schließlich in einem wilden, entfesselten und streckenweise hart zu ertragenden Realitäts-Check, zu einer Art Abrechnung mit einer verklärten Epoche und gleichzeitig sehr aktuellen Statement zur „Me too“-Debatte.
Auch wenn nicht jedes Detail mit den Gesetzen der Logik erklärbar ist, lassen sich daraus keine inhaltlichen Schwächen des Gesamtwerkes ableiten. Die gibt es weder in diesem Bereich noch in der visuellen Umsetzung oder im Hinblick auf das Darstellerensemble, in dem sich auch noch die Namen von Matt Smith, Terence Stamp sowie Diana Rigg in ihrer letzten Rolle finden. „Last Night in Soho“ ist ein herausragender Film, dessen Wucht einen genauso unvermittelt wie unvorbereitet trifft.
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