Herr Wichmann von der CDU

Jahr
2002
Laufzeit
75 min
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 1. Juni 2010

Immer dann, wenn eine Wahl näher rückt, klappen sie in allen Fußgängerzonen Deutschlands ihre Sonnenschirme auf, verteilen Kugelschreiber und Feuerzeuge, ebenso viele Informationsbroschüren und noch mehr politische Plattitüden: die kleinen Lokalwahlkämpfer der Bundesrepublik, die in einer unermüdlichen Ochsentour und nach dem ewigen Credo "Jede Stimme zählt" die Demokratie am Leben halten, aber letztlich fast immer nur als Nervensägen links liegen gelassen werden. Andreas Dresen ("Nachtgestalten", "Halbe Treppe") - einer von Deutschlands besten Regisseuren, der auch dann hyperrealistische Filme macht, wenn er nicht dokumentarisch arbeitet - hat diesen ignorierten Helden des demokratischen Alltags eine ganz eigene Laudatio gewidmet. Doch dessen wird man sich eigentlich erst viele Stunden nach dem Filmgenuss bewusst. Vorher ist man zu sehr mit Lachen beschäftigt.
Über sechs Wochen begleitete Dresen mit einem kleinen Kamerateam den brandenburgischen Jura-Studenten Hendryk Wichmann durch seinen Wahlkampf, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war: Heimisch in der ländlichen Uckermark, mit über 20% Arbeitslosigkeit und gut 50% SPD-Stammwählerschaft, hatte der ehrgeizige 25-jährige als örtlicher CDU-Bundestagskandidat nicht den Hauch einer Chance. Und so funktioniert der dröge Wahlkampf-Alltag des Hendryk W. für die Kinozuschauer zuerst denn auch als beißend-komische Nummernrevue peinlich provinzieller Erbärmlichkeiten: Wie Wichmann in Fußgängerzonen, an Kaufhäusern oder Imbissbuden seine Prospekte loszuwerden versucht, wie er Passanten in kleine politische Gespräche verstricken möchte, wie er immer wieder und wieder dieselben Sprüche und klischeehaften Argumente vorträgt, wie er sich bei Podiumsdiskussionen gegenüber seinen Gegenkandidaten zu profilieren versucht, das ist zunächst - aus der sicheren ironischen Distanz des aufgeklärten Großstadtmenschen - ein herrliches Theater kleinstädtischer Belanglosigkeit. Anfangs kann man kaum anders, als Wichmann als Witzfigur wahrzunehmen: Zu amateurhaft seine billigen PR-Versuche, zu durchschaubar die permanente Heuchlerei von Interesse für die Gedanken seiner Gesprächspartner, zu offensichtlich seine Unfähigkeit, ein gute Rede oder auch nur ein gutes Argument zu präsentieren.
Nur langsam erkennt man als Zuschauer das größere Bild, das hier entsteht: Es geht Dresen nicht um die Entlarvung eines Provinz-Spießers, der mit seiner deplatzierten konservativen Gesinnung an der völlig falschen Adresse ist und sich permanent lächerlich macht. Wer sich hier über Hendryk Wichmann als CDU-Mensch lustig macht, der durch den Kakao gezogen wird, entlarvt sich selbst als engstirnig und politisch intolerant, denn genau denselben Film hätte man in einer CDU-Hochburg auch über einen SPD-Kandidaten drehen können. Dresen geht es viel mehr um die Standhaftigkeit eines Verlierers, und genau deshalb kommt man nicht umhin, dem jungen Wichmann letzten Endes doch Respekt und ein wenig Bewunderung zu zollen: Sich in einer der hoffnungslosesten Gegenden Deutschlands, die sowohl die Wirtschaft als auch die heranwachsende Generation fluchtartig verlassen haben wie die Ratten das sinkende Schiff, über Wochen hinstellen und stetig den Glauben an Aufschwung predigen, ohne auch nur die geringste Chance auf den Wahlsieg zu haben - das zeugt von Engagement und Überzeugung in einer Art, wie es sie viel zu selten gibt. Selbst wenn Wichmanns Herz auf der falschen politischen Seite schlägt, so bringt er doch mehr Herzblut mit, als die meisten von uns aufzubringen im Stande sind.
Und doch bleibt er über 75 Minuten ein armes Würstchen, dem abwechselnd Spott und Bedauern zu Teil wird, aber nicht einmal Bewunderung. Wahlkampf auf seiner niedrigsten Ebene, so zeigt uns Regisseur Dresen ohne ein einziges Wort Off-Kommentar oder Interview, ist eine grauenvoll undankbare Angelegenheit: wo man jedem vorbeischlendernden Trottel in seiner idiotischen Argumentation noch irgendwie Recht geben muss, um den Wähler (der wahrscheinlich sowieso nicht zur Urne geht) nicht zu verprellen; wo man sich zum Deppen macht, indem man Stimmen im Altersheim sammeln will, obwohl die Bewohner ohnehin keine Perspektive mehr haben, sofern sie ihre Sinne überhaupt noch genug beisammen haben, um zu verstehen, was man ihnen erzählt; wo die Leute sich mehr für die kostenlosen Kugelschreiber als für das Parteiprogramm interessieren.
Und ganz langsam erkennt man als Zuschauer die großen Wahrheiten in den kleinen Momenten: Dass Wichmanns Hilflosigkeit allgemeingültig ist und auch ein SPD-Mensch in denselben Situationen nicht besser aussehen würde, dass in Zeiten des Wahlkampfs fundierte politische Argumentation immer für polemische Parolen ohne Inhalt über Bord geworfen werden, und dass dieses Bild letztlich in ganz Deutschland dasselbe ist. Mit der sicheren Hand eines begnadeten Dokumentartors findet Dresen die stillen Bilder, die mehr sagen als tausend Worte, spürt die unmittelbar aufblitzenden Momente nackter Realität auf und lässt seine Zuschauer die verzerrende Wirkung der Kamera ebenso vergessen, wie Hendryk Wichmann sie irgendwann vergessen hat.

Als CDU-Anhänger wird man hier nicht viel zu grinsen haben, während der gesamte Kinosaal in schallendes Gelächter über Wichmanns unbrauchbare Argumente ausbricht, aber auch als überzeugter Linker oder Grüner bleibt einem nichts anderes übrig, als den Mut Wichmanns anzuerkennen. Nicht nur, weil sich der örtliche FDP-Kandidat in seinen wenigen kurzen Auftritten als die tatsächliche Witzfigur dieses Wahlkampf-Szenarios erweist. Vor allem, weil die Aufopferung von lokalen Kandidaten wie Wichmann (die ihren Wahlkampf stets aus der eigenen Tasche finanzieren müssen) das grundehrliche und bodenständige Gegenstück zum skurril aufgeblasenen Show-Spektakel des Bundes-Wahlkampfs ist, der schlussendlich noch weniger zu sagen hat. Als Angela Merkel mit ihrem Begleittross aus Bühnenarbeitern, Riesenleinwänden, Sound-Systemen und Sicherheitsleuten in die ländliche Ruhe eindringt und den ihr gänzlich unbekannten Wichmann über den grünen Klee lobt, wie sie es wochenlang auch in jedem anderen Wahlkreis mit dem örtlichen Kandidaten getan hat, erscheint die Heuchlerei der großen Politiker soviel enormer, dass man die unbedeutenden Kreistagsabgeordneten unter ihren Sonnenschirmen in der Fußgängerzone plötzlich richtig lieb gewinnt. Denn die sind wenigstens noch ein kleines bisschen ehrlich. Irgendwie.


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