
Es gibt viele unvergessliche Momente in Mike Leighs neustem Film "Happy Go Lucky". Doch die wahrscheinlich denkwürdigsten Augenblicke gelten dem Fahrlehrer Scott (Eddie Marsan), der mit seinen cholerischen Wutanfällen zwar bei seiner Schülerin Poppy (Sally Hawkins) auf taube Ohren stößt, doch dafür dem Kinozuschauer ein ums andere Mal die Lachtränen in die Augen schießen lässt. Vor allem seine Eselsbrücke "En Ra Ha", die seine Fahrschüler immer an den Blick in die Seiten- und den Rückspiegel erinnern soll, ist kultverdächtig.
Doch nicht Scott ist der Hauptdarsteller des Films, sondern seine Schülerin. "Happy Go Lucky" wirft einen kurzen Blick in Paulines Leben, die von allen nur Poppy genannt wird. Sie ist Anfang 30 und lebt mit einer Freundin in einer Wohngemeinschaft in London. Ihr Geld verdient sie als Kindergärtnerin. Ansonsten lebt Poppy - wie es schon der Titel suggeriert - sorgenfrei und fortwährend fröhlich in den Tag hinein. Sie nimmt Fahrstunden, begleitet eine Arbeitskollegin zum Flamenco-Unterricht, macht Männer an und lässt sie genauso schnell wieder abblitzen. Mit ihrer Lebensfreude möchte sie ihre ganze Umwelt anstecken, doch immer wieder stößt Poppy auf Grenzen. Nicht alle wollen sich von ihrer Lebenslust anstecken lassen.
Das neuste Werk des englischen Filmmeisters Mike Leigh hat keinen wirklichen Anfang und auch kein wirkliches Ende. Zudem verweigert er sich fast konsequent der gängigen Dramatisierung. Leigh erzählt keine Geschichte. Er beobachtet ein Leben und den dazugehörenden Alltag. Bescheiden und unaufdringlich wirft er uns schon mit den ersten Einstellungen mitten hinein in Poppys Welt, um sie dann am Ende genauso unauffällig wieder zu verlassen.
Konsequent im Mittelpunkt steht die ständig lächelnde Kindergärtnerin. Und man darf sich sehr tief vor Leigh verbeugen, denn mit Poppy erschafft der Regisseur eine Kinofigur, die es in dieser Art und Weise noch nie zu sehen gab. Poppy ist immer am Lachen, immer leuchten ihre kindlichen Augen. Das erste Mal, dass wir ihr begegnen, wird ihr Fahrrad gestohlen. Als sie aus einem Buchladen kommt und die Stelle betrachtet, wo vor kurzem noch ihr allerliebstes Tretpferd stand, verzieht sie keine Miene und sagt lachend: "Schade. Ich konnte mich nicht mal verabschieden." Das ist mehr als bezeichnend für ihre Lebenseinstellung. Das Leben ist schön und toll. Schlechte Laune, eventuelle Niederlagen oder gar Depressionen sucht man vergebens in ihrem Weltentwurf. Alles ist heiter, unbeschwert und frei von jeglichen Sorgen. Dieser geballten Ladung an positiver Energie kann man sich nur sehr schwer widersetzen und so schlägt Poppy so gut wie jeden Zuschauer in ihren Bann.
Doch ihre Lebensphilosophie - die mit Kurt Tucholskys Spruch "Lerne lachen ohne zu weinen" gut auf den Punkt gebracht werden könnte - kann Poppy nicht jedem aufdrängen. Auch wenn sie meint, dass nur so alle Menschen glücklich werden könnten. Im Fahrlehrer Scott findet sie ihren härtesten Widersacher. Scott ist nahezu ihr komplettes Gegenteil. Zurückhaltend, passiv, verunsichert und meistens schlecht gelaunt kann er mit der extrovertierten Fahrschülerin sehr wenig anfangen. Aus dieser Konfrontation der beiden Figuren erwächst in "Happy Go Lucky" vielleicht die offensichtlichste Form eines Konflikts. Scott kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, wieso Poppy alles und jeden in ihr Herz schließen kann und immer nur das Gute in einer Situation erkennt. Durch dubiose Verschwörungstheorien versucht er ihr die Augen für die hässlichen Seiten des Lebens zu öffnen. Vergebens.
Mike Leighs Inszenierung setzt auch in dieser ganz speziellen Konstellation nicht auf übliche Kinodramatik. Der Film nimmt sich die Zeit seinem luftig leichten Rhythmus zu folgen. "Happy Go Lucky" verkommt nie zum bloßen Stückwerk. Nie geht Leigh die Gefahr ein, seinen Film in lose Episoden zerfallen zu lassen. Die Kamera beobachtet ruhig und gelassen die Alltäglichkeiten seiner Protagonistin. In den Mittelpunkt rückt der Regisseur damit eine Generation, die sich zwar überwiegend durch ihren Sinn für Humor und eine gewisse Unbekümmertheit auszeichnet, und trotzdem keine leichtsinnigen und selbstvergessenen Tagträumer produziert.
Was aber "Happy Go Lucky" so unwiderstehlich macht, ist seine präzise, diskrete und zurückhaltende Charakterzeichnung. Denn wir erleben keine Figurenentwicklung im klassischen Sinn. Am Ende haben sich nämlich nur einige Akzente und Nuancen der Protagonisten verschoben. Die Menschen in Leighs Film erscheinen nicht komplett geläutert, sondern nur etwas einsichtiger. Der Weg zu diesen kleinen und nahezu unmerklichen Veränderungen ist aber getragen von einem hinreißend charismatischen Grundton der gesamten Geschichte.
Leigh hat das ultimative "Feel Good Movie" des Jahres gedreht. Außerdem präsentiert er mit seiner Hauptdarstellerin Sally Hawkins, die für ihre stark umjubelte Performance den silbernen Bären als beste Darstellerin auf der diesjährigen Berlinale gewann, eine über alle Maßen talentierte Schauspielerin, von der man sich noch Großes erhoffen kann. Und mit Poppy betritt eine Person die Leinwände, die niemand so schnell vergessen wird. Das sei an dieser Stelle garantiert.
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