Seit 1942 führt die zum British Film Institute gehörende Fachzeitschrift Sight & Sound alle zehn Jahre unter namhaften Regisseuren und Kritikern um den ganzen Erdball eine Umfrage zum "Besten Film aller Zeiten" durch. Seit 1952 wird diese Liste jedes Mal von "Citizen Kane" angeführt, auch bei der letzten Fassung vom August 2002. Als generell einzige halbwegs ernstzunehmende Umfrage dieser Art hat die Sight & Sound poll ihren Anteil an der Mythosbildung "Citizen Kane", und der Unmöglichkeit, diesen Film relativ unbelastet anzusehen. Spricht man von "Citizen Kane", schwingt automatisch eine Erwartungshaltung mit, die den neuen Zuschauer nach Ende des Films ein wenig enttäuscht und ratlos zurücklassen wird - vom angeblich besten Film aller Zeiten hat man dann doch etwas anderes erwartet. Um Status und Bedeutung von "Citizen Kane" zu verstehen, wird vom heutigen Zuschauer mehr verlangt als das bloße Ansehen. Man muss begreifen, was der Film zu seiner Entstehung bedeutete, und was er hernach alles bewirkte. Und selbst dann mag man immer noch ratlos sein - aber das ist in diesem Falle sogar anvisierte Absicht.
Zugegeben, "Citizen Kane" bietet sich zur Mythenbildung an wie kaum ein anderer Film in der Geschichte des Kinos. Wunderkind Orson Welles kam damals 24-jährig als frischgebackener Radiostar - seine Inszenierung von "Krieg der Welten" ist bis heute legendär, hielten zahlreiche amerikanische Zuhörer die geschilderte Invasion vom Mars doch für Wirklichkeit - nach Hollywood und erhielt von seinem Studio RKO einen Traumvertrag mit kompletter künstlerischer Kontrolle, von der ersten Drehbuch-Seite bis zum letzten Schnitt. Was Welles bei so viel Freiheit produzierte, hätte es rein stilistisch wohl schon schwer genug gehabt mit dem damaligen Massengeschmack, sein Thema war es jedoch, das den Film öffentlich fast untergehen ließ. Der in Welles' Film portraitierte Zeitungsmagnat Charles Foster Kane war nämlich deutlich angelehnt an den echten Medienmogul William Randolph Hearst - und der fand das gar nicht witzig. Er warf all seine Kontakte in die Waagschale, machte mit seinen Massenblättern mobil gegen Welles und seinen Film, bedrohte über weite Strecken sogar die gesamte Produktion, und sorgte letztlich immerhin dafür, dass "Citizen Kane" von der Öffentlichkeit ignoriert wurde. Was sich auch bei der Oscar-Verleihung des nächsten Jahres niederschlug, als "Citizen Kane" nur mit dem Preis für das beste Drehbuch abgespeist wurde - bis heute eine der größten Ungerechtigkeiten der an Ungerechtigkeiten nicht armen Oscar-Geschichte. Erst Jahre später entstand unter europäischen Cineasten eine "Citizen Kane"-Renaissance (dementsprechend auch das Ergebnis besagter Sight & Sound-Umfrage), und der Film erhielt endlich die Anerkennung, die er verdiente.
Mit seiner Story hat dies indes wenig zu tun, denn die ist bereits komplett erzählt, bevor der Film so richtig anfängt (eine Methode, die sich James Cameron auch für "Titanic" auslieh, wo bereits am Anfang die Details des Untergangs erläutert werden, damit sich der Film im Anschluss um etwas anderes kümmern kann). Welles eröffnet sein Werk mit einem Wochenschau-Beitrag über den soeben verstorbenen Zeitungsriesen Charles Foster Kane, in dem dessen Leben kompakt zusammengefasst wird: als kleiner Junge zum Alleininhaber der auf dem elterlichen Grundstück entdeckten Ölquelle ernannt und von seiner Mutter in die Obhut eines wohlhabenden Geschäftsmanns gegeben, um ihn von dem negativen Einfluss seines Vaters zu bewahren, begann Charles Foster Kane mit erlangter Volljährigkeit eine Karriere als Zeitungsbesitzer und schwang sich mit populistischem Journalismus zum Sprachrohr des kleinen Mannes auf. Mit seinem stetig wachsenden Imperium kämpfte er gegen Korruption und Ausbeutung und beeinflusste selbst die internationale Politik, dank seiner resultierenden Popularität hätte er es fast zum Gouverneur gebracht - wenn nicht kurz vor der Wahl seine Affäre mit der Sängerin Susan Alexander öffentlich geworden wäre. Seine politischen Ambitionen zerstört, konzentrierte sich Kane anschließend darauf, aus seiner neuen Liebe einen Opernstar zu machen, trotz deren offensichtlichem Mangel an Talent. Zusehends verbittert und exzentrisch, starb Kane schließlich einsam in seinem monumentalen Anwesen Xanadu, verlassen von allen alten Freunden, mit dem Wort "Rosebud" auf den Lippen.
Dieses "Rosebud" nun ist der Aufhänger für den eigentlichen Plot: Auf der Suche nach dem "wahren" Kane macht sich ein Journalist auf, um hinter die Bedeutung dieses letzten Wortes des großen Mannes zu kommen. Er liest die Memoiren von Kane's ehemaligem Leumund, interviewt seinen langjährigen Geschäftsführer Bernstein, seinen besten Freund und Weggefährten Jed Leland, und schließlich auch Susan Alexander - und ist am Ende so schlau wie am Anfang.
In ausgedehnten Rückblenden, jeweils aus der erzählerischen Perspektive des gerade Interviewten, lässt "Citizen Kane" nochmals den bereits erläuterten Aufstieg und Fall seiner Hauptfigur Revue passieren, beleuchtet Kane's Charakter aus allen möglichen Richtungen - und sorgt gerade so dafür, dass der Mann ein Geheimnis bleibt. Setzen andere Biografien darauf, ihr Subjekt dem Zuschauer näher zu bringen und verständlicher zu machen, ist es Welles daran gelegen, Kane als Mysterium zu etablieren. Mit seiner fürs Erzählkino damals revolutionären Flashback-Struktur liefert Welles viele Ansätze für die Frage "Wer ist Kane?", doch die Antwort muss sich jeder Zuschauer aus den vorhandenen Versatzstücken selber zusammenbasteln. Gewollter Bruch mit erzählerischer Tradition oder realistisches Persönlichkeitsportrait (sieht doch auch im wahren Leben jeder von uns jeden Menschen anders), sicher ist man sich letztlich über gar nichts. Und selbst wenn in der berühmten letzten Einstellung des Films zumindest für den Zuschauer die Herkunft von "Rosebud" geklärt wird, hat das nicht so viel Bedeutung, wie es sich das nach Auflösung lechzende Publikum wünscht. Oder, wie die legendäre Kritikerin Pauline Kael dazu meinte: "It explains everything, yet it explains nothing."
In seiner Erzählstruktur schon ungewöhnlich, ist es die technische Seite, die "Citizen Kane" zu dem so unendlich einflussreichen Meilenstein machte, der er ist. Und so ist die vielgerühmte Genialität des Films denn auch nur nachzuvollziehen, wenn man bei jeder Einstellung auf die inszenatorischen Feinheiten achtet. In seinem fabelhaften und preisgekrönten Audi-Kommentar auf der amerikanischen DVD von "Citizen Kane" bezeichnet Kritikerpapst Roger Ebert den Film als "the ‚Birth of a Nation' of the sound era", denn ähnlich wie D.W. Griffith's monumentaler Stummfilmklassiker vereinigte "Citizen Kane" alle stilistischen Errungenschaften seiner Ära und fügte einige weitere hinzu. Welche Finessen sich auch immer in Ton, Schnitt oder Kamera in der noch relativ jungen Tonfilm-Ära herauskristallisiert hatten, Welles nutzte sie exzessiv und in Perfektion. Beinahe jede Szene ist in der einen oder anderen Hinsicht außergewöhnlich, der Film quillt geradezu über vor Spezialeffekten, auch wenn die meisten unbemerkt bleiben, da sie - wie z.B. die Computeranimationen in "Forrest Gump" - die Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen, sondern die Funktionalität der Szene unterstützen.
Der Akkumulation handwerklicher Kunstgriffe aber nicht genug, zusammen mit seinem Kameramann Gregg Toland entwickelte Welles eine hochgradig ausgefeilte Bildsprache, die in ihrer Genauigkeit und Wirkung bis heute ihresgleichen sucht - weshalb es auch mehr als berechtigt ist, dass sich im Abspann der Name des Regisseurs die Leinwand mit dem des Kameramanns teilt. Tolands berühmteste Errungenschaft ist dabei die sogenannte "Deep Focus"-Technologie: Durch spezielle Linsen erreichte er optische Schärfe in sämtlichen Tiefenebenen eines Bildes, ein zwanzig Meter entferntes Objekt ist genauso deutlich zu sehen wie eines direkt vor der Kamera. Das Ergebnis sind bizarre Szenen, die ebenso verwirren wie faszinieren, und quasi mehrere Einstellungen in einer bündeln. Die größte visuelle Meisterleistung in "Citizen Kane", und wohl auch das beste Beispiel dafür, dass simples Angucken hier einfach nicht genügt.
"Citizen Kane" nimmt sich aus wie das Spielzimmer eines Wunderkinds, und ist auch genau das: Mit der erwähnten vollen künstlerischen Kontrolle tobte sich Welles in all seiner kreativen Vielfältigkeit hemmungslos aus und erschuf so den laut Ebert "most dense movie ever". In der Tat findet sich wohl kein anderer Film auf der Welt, der auf so vielen Ebenen funktioniert, so viel analytisches Material bietet, und in jeder Einstellung so bedeutungsschwanger daherkommt. Und weil es an diesem Film so viel gibt, über das man extensiv reden kann, verdankt "Citizen Kane" auch vor allem den Filmkritikern und -intellektuellen dieser Welt seinen mythischen Ruf als "bester Film aller Zeiten", ähnlich wie James Joyce's eigentlich unlesbarer weil hochgradig komplizierter Roman "Ulysses" das meistdiskutierte Buch der Welt mit ähnlich mythischem Ruf ist - es bietet einfach die meisten Ansatzpunkte.
Dank seiner schier unglaublichen Dichte, seiner künstlerischen Perfektion und seinem enormen Einfluss (als sehr eigenwilliges und auch selbstreflexives Werk des Universalgenies Welles in Personalunion als Regisseur, Autor, Produzent und Hauptdarsteller gilt er als Grundstein der seitdem in der Filmanalyse vielzitierten "Auteur"-Theorie) gilt "Citizen Kane" gerechterweise als bester Film aller Zeiten, als Lieblingsfilm - und hier setzt das Problem mit solcherlei Bezeichnung ein - wird ihn aber kaum ein Filmfan anführen. Er verfügt über keine Identifikationsfigur, lässt emotionale Anteilnahme vermissen und gibt seinem Zuschauer keine Weisheiten mit auf den Weg - außer vielleicht der Erkenntnis, das Geld nicht glücklich macht, aber das ist auch nicht gerade neu. Ebert bezeichnete "Citizen Kane" abschließend als "shallow masterpiece", und trifft damit den Nagel auf den Kopf: Jeder Cineast wird zugeben, dass der Film in jeder Hinsicht schlichtweg genial ist, aber wenn es darum geht, sich einen schönen Abend mit dem persönlichen Liebling zu machen, wird "Citizen Kane" im Regal liegen bleiben. Ein Meisterwerk, das so weit oben schwebt, dass der Kontakt zum Gehirn des Filmfreunds noch besteht, zum Herzen aber bereits abgerissen ist.
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