Atlas

Originaltitel
Atlas
Jahr
2019
Laufzeit
100 min
Genre
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Moritz Hoppe / 23. April 2019

Der Filmemacher David Nawrath sollte spätestens seit der Bekanntgabe der Nominierungen für den deutschen Filmpreis 2019 kein unbekannter Name mehr sein. Gemeinsam mit Paul Salisbury ist der Berliner Nachwuchsregisseur in der Kategorie „Bestes Drehbuch“ für seinen ersten Langfilm „Atlas“ nominiert, zudem konnten die beiden Drehbuchautoren bereits den Emdener Drehbuchpreis mit nach Hause nehmen. Doch nicht nur am Schreibtisch kann David Nawrath sein filmisches Talent unter Beweis stellen, denn mit „Atlas“ ist ihm ein bedrückend inszeniertes und mitreißend erzähltes Regiedebüt gelungen, das sowohl gesellschaftliche Missstände anprangert, als auch einen groß aufspielenden Rainer Bock („Inglourious Basterds“, „Better Call Saul“) in der Hauptrolle präsentiert.
 

Walter (Rainer Bock) ist langjähriger Möbelpacker für Zwangsräumungen in der Frankfurter Altstadt. Sein Chef Roland (Uwe Preuss) arbeitet mit einem kriminellen Kurden-Klan zusammen, der in den Zwangsräumungen ein finanzielles Profitgeschäft wittert. Die Altbauten sollen in saniertem Zustand gewinnbringend weiterverkauft werden, bei ihrem Vorhaben schrecken die Mitglieder des Kurden-Klans auch vor gewalttätigen Vorgehensweisen nicht zurück. Eines Tages droht die Situation bei einem Bewohner der betroffenen Wohnungen zu eskalieren: Jan (Albrecht Schuch) weigert sich mit seiner Frau und seinem Kind das Haus zu verlassen und wohnt entgegen der Drohungen des Klans weiterhin im leergeräumten Wohnkomplex. Zu allem Überfluss findet Walter heraus, dass es sich bei Jan um seinen Sohn handelt, mit dem der ehemalige Gewichtheber vor Jahrzehnten nach einem Vorfall jeglichen Kontakt abgebrochen hat. Zwischen den Stühlen stehend muss sich Walter nicht nur mit Geschichten der Vergangenheit, sondern auch mit der drohenden Gefahr des Immobilien-Klans auseinandersetzen.
 

„Atlas“ erzählt im Kern zwar eine Vater-Sohn-Geschichte, nutzt hierzu jedoch glücklicherweise keine abgenutzten Erzählweisen, sondern geht eigene Wege. Der familiäre Konflikt wird oft zwischen den Zeilen angedeutet und behandelt, viele Handlungen bleiben unkommentiert und auch die Hauptfigur Walter ist nur schwer greifbar. Doch trotz der zurückhaltenden Erzählweise kommt das Drehbuch spannend daher, was zusätzlich durch den Score verstärkt wird. Bei der Wahl seiner Themen nutzt Nawrath unter anderem zentrale Charakteristika des Film Noir – beispielsweise spielen die Fesseln der Vergangenheit, undurchsichtige Protagonisten und das Scheitern von Sehnsüchten eine Rolle – verpackt diese in ein Charakterdrama und schafft es, die ca. 100 Minuten Laufzeit sinnvoll und tiefgründig zu füllen.

Der titelgebende Name „Atlas“ stammt dabei nicht grundlos aus der griechischen Mythologie – „Atlas“ steht für einen Titanen, der die Welt auf seinen Schultern trägt. Nawrath bezieht die Figur des Titanen nicht nur auf Walters Berufstätigkeit, vielmehr überträgt er diesen Gedanken auf Walters Lebenssituation. Rainer Bock porträtiert in einer ungemein zerbrechlichen und undurchsichtigen Art und Weise einen Mann, der gleichermaßen die Last seiner Vergangenheit, seines jetzigen und seines zukünftigen Lebens auf den Schultern tragen muss. Kameramann Tobias von dem Borne ist während des gesamten Films sehr nah an den Figuren, wodurch das nuancierte Schauspiel Rainer Bocks immer stärker in den Mittelpunkt rückt.

Aber auch die Nebenfiguren können schauspielerisch auf ganzer Linie überzeugen. So begeistern beispielsweise Albrecht Schuch in der Rolle von Jan Haller, der alles daransetzt, seinen Prinzipien zu folgen um seine Familie zu beschützen, oder Thorsten Merten als Alfred Hoppe, ein Gerichtsvollzieher dessen Leben sich nach und nach in der Sinnlosigkeit zu verlieren scheint. Nahezu alle Figuren sind gut durchdacht und bieten nachvollziehbare Beweggründe. Einzig Moussa (Roman Kamonik), der Antagonist des Films, wirkt ein wenig eindimensional. Die Beweggründe von Moussa werden lediglich auf die finanziellen Aspekte runtergebrochen, etwas mehr Ambivalenz hätte der Figur gutgetan.

Das großstädtische Setting sorgt für eine sehr triste und kühle Atmosphäre, in der die Figuren - allen voran Jan und seine Familie – versuchen, die verloren gegangene Menschlichkeit aufrechtzuerhalten. Aufgrund der eher entschleunigten Erzählweise haben die Gewaltmomente eine enorme Wucht und Härte, wirken dabei vielmehr auf psychischer als auf physischer Ebene. Gepaart mit der ohnehin schweren Thematik der Geschichte lässt „Atlas“ den Zuschauer nachdenklich und mitgenommen zurück.

David Nawrath entwirft mit „Atlas“ eine große Erzählung über das Leben des kleinen Mannes. Die realistische und gut geschriebene Figurengestaltung, ein beeindruckender Rainer Bock sowie die effektiv inszenierten Spannungsmomente machen „Atlas“ zu einem sehenswerten Regiedebüt, das sich wie ein Puzzle immer weiter zusammensetzt.

Bilder: Copyright

8
8/10

Bin alleine aufgrund der Eckdaten „Produktionsfirma 23/5“ („Was bleibt“, „Requiem“) und Hauptdarsteller „Rainer Bock“ (“Better call Saul“, „Das weiße Band“) in den Film – ohne weiteres zu Genre oder Inhalt zu wissen. Richtige Entscheidung: sehr starker Film, packendes Kino. Hier stimmt einfach alles. Angefangen vom hervorragenden Ensemble über die Story bis zur Umsetzung. Sehr sensibel inszeniert, spannend von Anfang bis zum Ende. Damit muß man sich nicht vor internationalen Produktionen verstecken. Schade, daß solche Filme nicht mehr Publikum finden.

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