Ein Mann (Ryan Reynolds), vollkommen zugedröhnt, fährt mit dem Auto durch L.A. Er schaut auf die hinteren Sitze und sieht sich – etwas bärtiger – selbst. Dann wirft er einen Blick in den Rückspiegel und entdeckt daneben ein drittes Ich – diesmal mit Brille. Alle drei lachen und schneiden Grimassen. Sekunden später liegt das Auto auf dem Dach und Gary wird festgenommen.
Gary ist jener der drei sich verdammt stark ähnelnden Männer, um den es in der ersten halben Stunde hauptsächlich geht. Nachdem der Schauspieler, bekannt aus einer Cop-Serie, von Liebeskummer geplagt aus Versehen sein Haus in Brand gesetzt hat, wird er nach seinem Drogentrip unter Hausarrest gestellt. Eine ihm wie uns unbekannte Frau namens Margaret (Melissa McCarthy), eine Art Agentin, die um sein Wohlergehen besorgt ist, verschafft ihm eine neue Unterkunft, deren eigentlicher Eigentümer gerade auf Reisen ist. Dort tut Gary dann das, was man halt so tut, wenn man wochenlang auf wenigen Quadratmetern festsitzt: Im Pool schwimmen, auf dem Boden rumliegen, trainieren, Piano spielen, masturbieren, geheimnisvollen Geräuschen im Haus nachgehen, Mäusefallen auslegen und mit Sarah (Hope Davis), einer Nachbarin, auf der Couch landen.
Nachdem all diese gewöhnlichen Aktivitäten abgehakt sind, wird es jedoch unheimlich: Überall wimmelt es plötzlich von der Zahl 9. Beim Backgammon würfelt Gary nichts anderes mehr, ein ominöser Zettel scheint ihn anzuweisen, auf diese Zahl zu achten, und eine mysteriöse Stimme auf dem Anrufbeantworter sagt stets: „Neun, neun, neun, neun, ...“. Als sich Gary – ohne den Einfluss irgendwelcher Drogen – im Haus dann auch noch selbst begegnet und Margaret mit Sarah ein merkwürdiges Gespräch führt, wird ihm klar, was Sache ist: Er ist längst tot. Naja, vielleicht träumt er auch bloß. Oder vielleicht doch das Fegefeuer? Und gerade als sich des Rätsels Lösung zu offenbaren scheint... beginnt der Film unter veränderten Vorzeichen wieder von vorn.
Es ist keine Überraschung, dass Ryan Reynolds im Laufe des Films mehr als einen Charakter spielt, zeigt ihn doch schon das DVD-Cover dreifach und unterschiedlich behaart. Neben der Frage, was es mit den Neunen auf sich hat, ist das größte Geheimnis, das es hier zu offenbaren gilt, jenes, wie die unterschiedlichen Figuren zusammenpassen. Persönlichkeitsstörung? Alternative Realitäten? Oder doch das beliebte Fegefeuer? Regisseur und Drehbuchautor John August mag es nicht unbedingt subtil und knallt dem Zuschauer von Beginn an einen Hinweis nach dem anderen an den Kopf. Dabei gibt es allerlei Mysteriöses zu entdecken, aber auch vollkommen banale Dinge, denen jedoch vielleicht auch ein größerer Sinn innewohnen könnte.
Hat es beispielsweise etwas zu bedeuten, wenn Gary feststellt (oder meint festzustellen), dass ihm der Bauchnabel fehlt? Bezieht sich das Wort „Knowing“, das auf einer Diskette steht, auf den gleichnamigen Film mit Nicolas Cage und könnte ein Hinweis sein? Warum tragen die Kaffeetassen, die Margaret sich und Gary bringt, jeweils die Farben ihrer Kleidung? Und ist es Zufall oder nicht, dass überall die Neunen auftauchen? Oder vielleicht nicht doch so eine Wahrnehmungssache, genau wie man meint, von Verspätungen der Straßenbahn selbst am Häufigsten betroffen zu sein, aber die unendlichen Male, in denen sie pünktlich kommt, gar nicht wahrnimmt?
Stilistisch erinnert „The Nines“ an die Filme von Richard Kelly („Donnie Darko“, „The Box“), dabei ganz besonders an „Southland Tales“, diese bizarre Mischung aus Drama, Komödie, Mystery, Science-Fiction und Musical. Auch in „The Nines“ sind die Charaktere so angelegt, dass man nicht wirklich weiß, ob das nun ein ernsthafter Film, eine Parodie oder eine Schwarze Komödie sein soll. Man wird nicht so recht schlau daraus, ob das teils äußerst merkwürdige Verhalten nicht vielleicht sogar ein Teil der Lösung für die vielen Mysterien sein könnte. Am Absurdesten wird es dann, wenn Sarah die „vierte Wand“ durchbricht und direkt Richtung Publikum gerichtet ein Lied über ihr Leben singt. Dass John August auch schon für Tim Burton zahlreiche schrullige Charaktere auf Papier brachte (so auch bei den beiden diesjährigen Produktionen „Frankenweenie“ und „Dark Shadows“), überrascht da nicht.
Dieser abenteuerliche Genre-Mix, der bestens unterhält, findet sich in dieser Form allerdings bloß im ersten Akt wieder. Ohne zu viel verraten zu wollen: Im zweiten Teil des Films wechselt August komplett das Format (und blendet alles Mysteriöse fast gnadenlos aus) und im letzten Akt geht es dann deutlich ernsthafter zur Sache. Nachdem die ersten beiden Drittel mit ihren teils sehr limitierten Räumlichkeiten und starren Kameraeinstellungen sehr nach Low Budget aussahen (was in der Tat ja auch zutreffend ist), zeigt August abschließend, dass er nicht nur auf engstem Raum hemmungslos herumkaspern, sondern auch Spannung und Atmosphäre auf den Bildschirm bringen kann.
Ebenso wie Ryan Reynolds sind Hope Davis und Melissa McCarthy über die komplette Dauer in unterschiedlichen Rollen zu sehen. Einzig Elle Fanning spielt ein und denselben Charakter. Die mittlerweile 13-jährige Hauptdarstellerin aus Sofia Coppolas „Somewhere“ und J.J. Abrams „Super 8“ ist im schon fünf Jahre alten „The Nines“ nur aufgrund ihres breiten Grinsens wiederzuerkennen und war damals noch ein unbeschriebenes Blatt. Was diesen Film nun, im Jahre 2012, in unsere Videotheken bringt, ist offensichtlich: Melissa McCarthy wurde für ihre Rolle in „Brautalarm“ für den Oscar nominiert und Ryan Reynolds ist nach „Green Lantern“, „Buried“ und „Selbst ist die Braut“ mittlerweile ein Hollywood-Star.
Diskutabel ist die Auflösung, was es denn mit den Neunen und den multiplen Persönlichkeiten auf sich hat. Originell ist das zwar schon irgendwie, aber in der Ausführung reichlich unspektakulär und zu Tode erklärend. Ganz am Ende verlässt August dann ein wenig das Gespür für das, was lustig und spannend ist, und das, was einfach anödet und vielleicht einen Zacken over the top ist. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass „The Nines“ ein – wenn auch nicht perfekter – dann doch zumindest hochinteressanter und über weite Strecken auch sehr unterhaltsamer kleiner „Multiple Genre“-Film ist, wie man ihn in dieser Form selten zu sehen bekommt und der im späteren Verlauf auch noch diverse Metaebenen erklimmt – in Bezug auf seine Handlung, seine Charaktere, aber auch das Medium Film an sich. Nicht alle Zutaten sind ideal aufeinander abgestimmt, am Ende kommt dennoch ein genießbares Gericht dabei heraus.
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