Another Year

Originaltitel
Another year
Jahr
2010
Laufzeit
129 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Patrick Wellinski / 26. Februar 2011

 

Zynisch ist die Welt, in der wir leben. Wer sich davon überzeugen will, der braucht nur durchs Fernsehen zappen oder mal genau beobachten, wie gleichgültig und ignorant die Menschen im Supermarkt oder an der Bushaltestelle miteinander umgehen. Da braucht es von Zeit zu Zeit eine Reinigung. Und das Kino ist häufig der richtige Ort dafür. Insbesondere wenn man die Möglichkeit bekommt, einen zutiefst humanen Film zu sehen, der seine Figuren mit einer sensiblen Würde ausstattet und sie niemals vorführt. Mike Leigh hat mit "Another Year" genau so einen Film gedreht. Es ist jetzt schon einer der besten des Jahres.

Im Mittelpunkt steht ein älteres Ehepaar mit den lustigen Namen Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen). Sie führen seit vielen Jahren eine harmonisch entspannte Ehe. Die beiden haben ihr Leben rund um ein kleines Häuschen mit Garten in der Nähe von London organisiert. Dort säen und ernten sie ihr Gemüse und essen mit ihren Freunden. Damit wird das Haus von Tom und Gerri zum Zentrum von großen und kleinen Dramen des Alltags.

Aus der rudimentären Beschreibung wird bereits ersichtlich, dass "Another Year" kein Film ist, der stringent eine bestimmte Geschichte erzählt. Mike Leigh ("Happy Go Lucky", "Secrets and Lies") organisiert seine Erzählung eher lose und episodenhaft. Das ist auch das Ergebnis der ganz besonderen Arbeitsweise des Regisseurs. Leigh hat vor den Dreharbeiten nie ein fertiges Drehbuch parat. Meist hat er nur eine Idee und die Vorstellung von den Schauspielern. Dann beginnt eine lange und intensive Probephase in der die Figuren des Films entwickelt werden. Erst langsam entstehen so die Dialoge und der eigentliche Verlauf des Films.
Es mutet daher skurril an, dass Leigh für sein Skript zu "Another Year" gerade eine Oscarnominierung erhielt. Doch diese Art von Workshop-Arbeit ist es, die seinen Filmen einen unglaublichen Grad an Authentizität verleiht. Leighs Kino-Universen sind niemals "bigger-than-life". Hier ist alles auf Augenhöhe. Und genau deshalb schafft es der Regisseur in "Another Year" von den wesentlichen Themen des Lebens zu erzählen, so wie von der Angst vor dem Alleinsein.

Da gibt es Mary (grandios: Lesley Manville). Die Freundin von Tom und Gerri ist regelmäßiger Gast in diesem gemütlichen Haus. Wenn Mary zum Essen kommt, dann redet sie drauflos wie ein Wasserfall. Die Quasselstrippe kann einem schon auf die Nerven gehen und selbst Tom rollt hin und wieder mit den Augen. Doch Mary spricht nicht so viel, weil sie eitel ist und sich gerne reden hört. Nein, diese Frau ist einfach nur einsam. Sie hat niemanden und wird immer älter. Das Ehepaar ist ihr einziger sozialer Rückhalt.
Oder Toms rundlicher Arbeitskollege Ken (Peter Wright). Man ist gewillt die Körperfülle des Mannes als Ergebnis zu häufigen Bierkonsums abzutun. Doch auch hier wird deutlich, dass die Einsamkeit ihre Spuren bei ihm hinterlassen hat. Und als dann noch Mary sich langsam an Tom und Gerris Single-Sohn ranmacht, lotet der Film auch noch die Grenzen einer solidarischen Freundschaft aus.
Damit stellt "Another Year" vor allem die Frage nach der Ungerechtigkeit des Glücks. Warum leben Gerri und Tom so unbeschwert? Sie haben nie wirklich Streit. Ihnen gelingt alles mühelos. Das ist beneidenswert und nicht selten bekommt man das Gefühl, das wäre sogar unfair gegenüber einem Menschen wie Mary.

Die Jahreszeiten, die Leigh in wunderbar sehnsuchtsvolle Bilder packt, sind die wahren Rhythmusgeber dieser Geschichte. Erbarmungslos sind sie die Boten der vergehenden Zeit. Und dennoch ist dies ein helles und leichtfüßiges Werk. Ein intelligenter Film, der Hoffnung macht. Ein Film, der vom Alter und vom Altern erzählt ohne in Kitsch und Klischees zu verfallen. Das ist selten im Kino. Dafür muss man Leigh danken. Am besten mit einem Kinobesuch.

Bilder: Copyright

7
7/10

Um die letzten Sätze der Kritik aufzugreifen: Die Filmszene-User scheinen es Mike Leigh ja nicht wirklich zu danken – wenn man sich die Lawine von Kommentaren nach einer Woche so anschaut. Traurig.

Nachdem ich von Mike Leighs „All Or Nothing“ absolut begeistert war und mich die dauerpenetrante Fröhlichkeit der Hauptdarstellerin von „Happy Go Lucky“ an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben hat (was für sich gesehen ja auch eine Leistung ist), pendelt sich der neue Film genau dazwischen ein. Auf einer Skala von 1 bis 10 bei einer recht passablen 7.

Wie in allen seinen Filmen arbeitet der Regisseur auch hier mit einem Ensemble, dessen grandiose Mitglieder man nirgends sonst auf der Leinwand zu Gesicht bekommt. Als ausgleichende Gerechtigkeit für diesen Lapsus sind sie dafür im aktuellen Film nahezu ständig im Closeup präsent. Diesen botoxfreien Gesichtern zuzuschauen ist nach einem übermäßigen Konsum an glattgebügeltem Hollywoodquark ein wohltuender Genuß.

In „Another Year“ passiert „all and nothing“ – alles und nichts. Eigentlich die Betrachtung eines durchschnittlichen Jahres ohne extreme Höhen und Tiefen. Mal verliert der Fußballclub, mal gewinnt er. Freunde kommen zu Besuch und gehen wieder. Eine Verwandte stirbt. Jemand kauft ein Auto. Es wird geköchelt, Bier und Wein getrunken und natürlich Tee gekocht. Und trotz dieser vermeintlichten Banalitäten erzählt der Film viel über das was Leben ausmacht und regt dazu an, über das eigene zu reflektieren, sich mit den Figuren zu vergleichen oder den eigenen Freundeskreis zu beleuchten und zu hinterfragen. Das miteinander umgehen im Wechsel aus Mitleid, Fröhlichkeit, Sorge und Heuchelei, all die Hoffnungen und Ängste werden einem hier übergroß und überzeugend dargestellt. Auch die Routine und Langeweile eines durchschnittlichen Lebens jenseits der 50, das man als halb volles oder halb leeres Glas betrachten mag.

Absolut lohnend in der OV bzw. OmU.

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5
5/10

Im Fernsehen würde es fast niemanden aufs Sofa locken ..im Kino wird es nicht anders sein!
Ein Film wie ein Glas Wasser ! Du trinkst es aus ...es schmeckt nach nichts und nach 3 Minuten ist es auch vergessen!

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7
7/10

Ein Film wie ein Glas Wasser – nach 3 Tagen Marsch durch sengend heiße Wüste.

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@zelig
...und man trinkt es aus und fragt sich: war das jetzt alles? Kann ich bitte noch mehr haben? :-)

Ich hab mich gut unterhalten. Mit meinem Sitznachbarn. War wesentlich interessanter. Wobei die Manville doch den ein oder anderen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Der Film ist nicht empfehlenswert für die, die dieser Welt entkommen und sich in eine Filmwelt flüchten wollen, denn der Film ist so, wie das reale Leben. Ohne "Happy End", weil es ja ständig weitergeht. Banal, egal. So, wie ich als Kind immer dachte, was wohl danach passiert, mit den Darstellern, die ich liebgewonnen habe während des Films, wenn der Film aus ist, was passiert, wenn sie erstmal der Alltag hat? Dann ist das hier die Antwort. Ein "Nach-dem-Abspann-gehts-los-Film". Ich weiss nicht, ob man das braucht und was das soll. Deshalb enthalte ich mich auch einer Wertung.
Wenn ihr mich fragt, ob ihr den gucken sollt: Keine Ahnung!
Besucht lieber Freunde oder entfernte Verwandtschaft und hört und guckt euch an, was die so treiben und wies denen geht, kommt aufs gleiche raus und hat mehr Gehalt, denn das ist real und hat was mit euch zu tun...
LG FG

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Ich muss hier einmal aus cinephiler Sicht intervenieren und will gar nicht so minutiös den Inhalt des Films, die Darsteller, die Botschaft und die technische Umsetzung in den Mittelpunkt rücken, denn Mike Leigh hat bislang immer bewiesen, dass er sein Handwerk meisterhaft beherrscht.
Wir müssen nach dem Genuss dieses Filmes erneut eine Lanze für den europäischen Film brechen, denn gerade "another year" zeigt exemplarisch, welch großartige Filmkunst in Europa gedreht wird und darüberhinaus in jedem Land eine eigene kultur- und geschichtsspezifische Handschrift sichtbar ist, ohne dass es jemals langweilig oder zu ärgerlich werden kann. Allein die Tatsache, dass Leigh ohne festen Script schreibt und dass er kein Starkino zusammenbastelt, zeigt wie sehr das Filmen als eigenständige Kunstgattung weit über dem Niveau der großen Kinofabriken wo auch immer steht. Dieser Film langweilt in keiner Minute und wer da an Wassergläser und Wüstenhitze denkt, sollte in andere Filme gehen oder gleich auf der Couch sitzen bleiben. Exzellenz, das ist nicht nur die Debatte in der Wissenschaft und der Grundsatz "Präzision vor Tempo" gilt ebenso für die cinematografischen Arbeiten wie für alle Wissenschaften. Allen ernst zu nehmenden Filmen kann man das Strickmuster ansehen, ob es low-budget-productions sind oder Milliondollarbabies, die letzte Berlinale hat es ebenso gezeigt wie die anderen wichtigen Filmfestspiele und es sind die kleinen, unaufgeregten und eindringlichen Filme, die das Kino und vor allem uns Zuschauer begeistern. Und die das Kino weiterbringen, denn es geht nicht um 3D oder um übersteigerte Pixelmania, sondern um Qualität und Wahrhaftigkeit.
Da kann sich Hollywood noch so anstrengen, sie sind gefesselt und gefangen in den Zwängen des Profits und gegängelt durch die Zockerspiele der Produzenten und Investoren, des Starrummels mit seinen Supergagen und den Studios mit ihrem Zwang zum Erfolg. Die Oscarverleihung war wiederum eine gigantische Blendwerkcharade und all das, was letztendlich in die nähere Auswahl kam, reicht nicht an das heran, was in Europa produziert wird. So gewann ein britisches Kammerspiel mit einem hervorragenden Colin Firth, was die Arbeit der Coen Brothers keineswegs schmälert, denn die beiden wissen, was Film wirklich bedeuten kann. Wer sich diese Preisverschacherungsshow angesehen hat, sehnt sich in das Programmkino zurück, um another day, another year hervorragende Filmkunstwerke zu sehen.

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