Ersparen wir uns falsche Bescheidenheit und konstatieren: David Lynch ist der letzte große Visionär Hollywoods und vermutlich der künstlerisch bedeutendste Filmemacher der letzten 20 Jahre. Sein Meisterwerk ist "Blue Velvet". So, nun ist es gesagt. We'll take it from here.
Will man das Geniale, das Visionäre von Lynch umschreiben, wie fängt man da an? Erster Versuch: Über den Stil. Nur wenige Regisseure - zumeist nur die Großen wie ein Hitchcock - prägten einen eigenen Stil, und noch weniger eine eigene Bildsprache. Lynch tat beides. Seine Filme sind von der ersten Sekunde an unverkennbar, sie bedienen sich eines visuellen Vokabulars, das ganz Lynchs eigenes ist. Niemand schafft Kompositionen wie er. Dies hat freilich Gründe. David Lynch ist gelernter und studierter Maler und gestaltet seine Filme wie Gemälde. Daher auch die reiche, meist das komplette Farbspektrum ausnutzende Bildsprache. Diese ist zudem durch das, was Lynch liebt, geprägt, allen voran der Einfluss von Film und Musik der späten 50er / frühen 60er Jahre (auf die er auch besonders gern in Zitaten und Referenzen verweist). Welch Ironie, dass einer der (post-)modernsten und innovativsten Regisseure, die Hollywood je hervorbrachte, seine Inspiration aus solch grauer Vorzeit ziehen sollte. Aber es ist das altmodische Fifties-Styling, das seine Werke so unwirklich scheinen lässt. Sie wirken nicht nur wie Filme aus einer anderen Zeit, sondern einer anderen Welt. Einer Welt, die es vielleicht nie gab, außer in Lynchs Fantasie. In Lynch fällt alle vergangene Kunst - auch und vor allem die Triviale - zusammen und erschafft Kunst für die Zukunft.
Zweiter Versuch: Die Inhalte. Das Hässliche im Schönen suchen und auch das Schöne im Hässlichen: Die äußerliche Hässlichkeit des "Elefantenmenschen" konterkariert durch sein sanftes, mitfühlendes Inneres und im Gegensatz dazu die freundlichen heilen Kleinstadtwelten von Lumberton und "Twin Peaks", unter denen das Abgründige und Böse lauert - diese Motive ziehen sich durch Lynchs Werk wie ein roter Faden. In der zweiten und wichtigsten Phase seiner Karriere - welche mit "Blue Velvet" begann und immer noch andauert - verfolgt er letzteres Motiv, selbst in einem offensichtlich harmlosen Film wie "The Straight Story". Er untersucht die Brüche in heilen Oberflächen und ist dabei so gnadenlos, dass er bisweilen wie ein Sadist wirkt. Dies hat man seinen Filmen vorgeworfen. Ihre Gewalttätigkeit, ihre Lust an der Perversion, kurzum: ihre Subversivität.
Dritter Versuch: Ideen und Intuition, vielleicht der Schlüssel. Denn zu einem wahren Genie gehören sie, die Geistesblitze. Lynch nutzte Dutzende davon. Daher wird man seine Filme nie ganz analytisch zerlegen können, wird ihrer nur durch Intellekt niemals habhaft werden. "Filmemachen ist eine Sache des Unterbewusstseins" sagt Lynch, und handelt konsequenter als jeder andere nach dieser Maxime. Daher gibt es in nahezu jedem Werk dieser zweiten Phase undekodierbare Stellen. "Twin Peaks"-Fans zum Beispiel versuchen seit über einem Jahrzehnt zu ergründen, was es mit dem "Red Room" auf sich hat. Lynch selbst weiß es nicht. Die bizarre Szene, die er auf Zelluloid bannte, erschien ihm im Traum. Lynch ist ein Traumfänger. Dies macht seine Filme zu so unheimlichen Erlebnissen, denn nur wer seinem Unterbewusstsein freien Lauf lässt, kann ernsthaft versuchen, es im Film einzufangen und zu beleuchten.
Aber brechen wir diese Überlegungen ab und wenden uns "Blue Velvet" zu. "Blue Velvet" ist nicht nur Höhepunkt seines Schaffens, sondern auch Anfangs- und Endpunkt. Sein Alpha und Omega. Mit diesem Film begann er die zweite Phase seiner Karriere - nach dem Untergrunddebüt mit "Eraserhead", dem Achtungserfolg "Der Elefantenmensch" und dem gescheiterten Experiment im Mainstream mit "Dune" - und dies ist der Film, in dem Lynch zum ersten Mal komplett seine eigene Stimme und Vision findet. Konsequenter und besser wurde es danach nicht mehr, auch wenn er dieselben Themen umkreiste. Seine legendäre TV-Serie "Twin Peaks" und das Husarenstück "Mulholland Drive" waren ähnlich grandios, mäanderten aber aufgrund ihrer Struktur und konnten ihrem Vorgänger letztlich nicht das Wasser reichen, denn in "Blue Velvet" hat Lynch bereits alles gesagt. Der Rest sind Variationen auf höchstem (die beiden ebengenannten Werke), hohem ("The Straight Story") und abfallendem ("Wild at Heart", "Lost Highway") Niveau. All diese nachfolgenden Filme flossen letztendlich immer wieder zum Ursprung zurück. Die oben besprochene Bildersprache, sie fand Ursprung und Höhepunkt hier, der Rest war Referenz. Das Motiv der Kerze bzw. der Flamme, das der dunklen Straße, das der Doppelgänger/gespaltenen Persönlichkeit, das der Maskierung - alles hier vorhanden. Sie bilden den Nukleus von Lynchs Schaffen und sind integraler Teil von "Blue Velvet":
"Das erste, woran ich dachte, waren Wiesen. Wiesen und Wohngebiete ... Im Auto sitzt ein Mädchen mit roten Lippen. Mir ging es um diese roten Lippen, um den blauen Samt und um die schwarzgrünen Wiesen." Man achte hier einmal auf die farblichen Zuschreibungen, das ‚in Farben denken' Lynchs, das Anordnen von Bildern. Was folgt ist ein Bilderrausch. Lynch verstehen, Lynch genießen ist nur möglich durch Gefühlsrezeption, durch Fallenlassen in den Rausch, das völlige Eintauchen in die fremde Welt. Und was für eine Welt dies ist.
"It's a strange world, isn't it?" sagt Protagonist Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) durch den ganzen Film durch. No kidding. Das abgründige Universum, das Lynch rund um die auf den ersten Blick harmlose freundliche Kleinstadt Lumberton aufbaut, ist in der Tat stranger than fiction. Der eigentlich ebenfalls harmlose freundliche Student Jeffrey findet auf einer Wiese (Schwarzgrün. Vermutlich.) ein abgeschnittenes Ohr (Lynchs Hommage an Bunuel und "Un chien andalou" - der avantgardistischste Hollywoodregisseur aller Zeiten salutiert seinem berühmtesten Vorgänger), und seine Nachforschungen führen ihn in eine dunkle perverse Welt, bevölkert von der undurchsichtigen Nachtclubsängerin Dorothy (Isabella Rosselini) und dem brutalen, drogenabhängigen Sadisten Frank Booth (Dennis Hopper) samt seiner derangierten Gang.
Gerade Frank Booth gehört zu den großartigsten Bösewichten der Filmgeschichte, was ganz und gar an der grotesk überzogenen, egomanischen Vorstellung von Dennis Hopper liegt. Verrückt, gefährlich und auf Drogen: Dafür kann es in Hollywood nur einen geben - nämlich den, Mann, der alles drei nahezu seine gesamte Karriere über war. Sein Frank Booth ist deshalb so ein Koloss, so ein Monster, weil der eher schmächtige Hopper durch das pure Gift, welches er versprüht, eine Aura aufbaut, die ihn als überlebensgroßen Teufel scheinen lässt. Man muss "Blue Velvet" allein schon (im Original) gesehen haben, um Hopper dabei zuzusehen, als jedes zweite Wort ein übles Schimpfwort zu gebrauchen. Und sein "Ready or not, here I come" ist gegenüber Jack Nickolsons legendärem "Here comes Johnny" in "Shining" die wesentlich lustigere Morddrohung. Manisch großartig, wie gesagt.
Isabella Rosselini als geschundene Sängerin ist dagegen mit ihrer Performance ein wenig gewöhnungsbedürftig. Großartig dagegen wieder Kyle MacLachlan, Lynchs Schattenmann durch die gesamten 80er, und der Lynchvertreter, der die seltsame (und abgründige) Welt um sich herum durch die erstaunten Augen eines Kindes sieht.
Über die noch folgenden Storywendungen soll hier nicht zuviel verraten werden, für die, die dieses Meistwerk noch nicht gesehen haben und diese Bildungslücke schleunigst füllen müssen. Wie in eigentlich allen Filmen Lynchs wird die Story auch hier zugunsten von Empfindung vernachlässigt. Dem Film seine nicht ganz vollzogene "Film Noir"-Struktur mit eher mäßig spannender Auflösung vorzuwerfen, wäre allerdings verkehrt. Wie einen Rettungsring wirft er dem Zuschauer ein traditionelles Konzept zu, von dem aus es dann zu wesentlich seltsameren Orten geht. Was passiert, wenn solch ein Rettungsring fehlt, hat man negativ an "Lost Highway" gesehen, einem fragmentarischen Film ohne erkennbar lineare Erzählung. Statt dies als Schwachpunkt zu werten, darf man froh sein, denn einen leichteren Einstieg in Lynchs Traumwelten als "Blue Velvet" wird man nicht finden.
Über Storydetails wollten wir nicht sprechen, über das Zentrum des Films - die 15-minütige, in Realzeit ablaufende Sequenz in Dorothys Appartement - müssen wir es. Sie trifft den Zuschauer mit der Wucht eines Vorschlaghammers, sie ist der Grund für die vehemente Kritik an diesem - sagen wir mal euphemistisch - nicht unumstrittenen Film. Die unangenehme Verquickung von Voyeurismus und erotischer Spannung, Sex und Gewalt, Sadomaso-Atmosphäre und Unschuld findet ihren unschönen Höhepunkt in der von Jeffrey beobachteten rituellen Vergewaltigung Dorothys durch Frank. Eine merkwürdige, abstoßende, faszinierende, nervös machende, großartige" Szene. Davis Lynch bekam dabei einen Lachanfall. Niemand hat je behauptet, er wäre nicht seltsam.
Feministinnen protestierten gegen die Erniedrigung der Frau und verpassten doch den Punkt. Diese Szene - schockierend, aber nicht zum Selbstzweck - zeigt den Einbruch des Abgründigen, des Ungewöhnlichen, des Perversen in die heile Welt und muss so rücksichtslos gezeigt werden, wie sie es wurde. Gleichzeitig thematisierte sie Voyeurismus und vollzog dies perfider Weise am Zuschauer selbst. Wie Jeffrey wird dieser selbst zum Voyeur, mit allen negativen Begleitumständen. Voyeurismus und Gewalt - nicht nur diese beiden Dinge erinnerten viele Kritiker an die Duschszene in "Psycho", vor allem in ihrer Schockwirkung. "After this scene we know we're in over our heads" sagte Gene Siskel damals über die Wirkung der Szene, und der verstorbene Roy Orbison fasste die Wirkung des Films selbst sehr treffend zusammen: "People didn't know what to make of it. There had never been anything like this before. There were no reference points in our culture for something like ‚Blue Velvet'". Auch hier greift der Vergleich zu "Psycho", aber "Blue Velvet" war ein noch krasseres, definitiveres Statement. In einer Zeit, in der Kino von gelacktem und oberflächlichem Kommerzkino à la Jerry Bruckheimer ("Top Gun") oder den Filmen des Teenie-Verstehers John Hughes ("Pretty in Pink") beherrscht wurde, stand dieser Film vollkommen auf sich gestellt da, ein Kunstwerk unter Gebrauchssachen.
Apropos Roy Orbison. Lynchs Obsession mit dem Mann der vielen Oktaven zieht sich ebenfalls durch seine Filme - vom Epigonen Chris Isaak, dessen "Wicked Game" dank "Wild at Heart" zum Hit wurde, bis hin zu einer großartigen spanischen Version von Orbisons Schnulze "Crying" in "Mulholland Drive" - und was er hier mit Orbisons "In Dreams" anstellt, in der vielleicht schönsten Szene des Films, ist reine Kinomagie. Dean Stockwell hat als schwuler Bordellbesitzer Ben seinen letzten großen Auftritt als Filmstar (und reiste fortan hauptsächlich als plapperndes Hologramm Al "Zurück in die Vergangenheit") und imitiert Presley zum Synchrongesang von "In Dreams", bizarr ausgeleuchtet von einer Lampe, die er als Mikrofon benutzt. Wie hier aus einer unschuldigen Sehnsuchtsschnulze ein Stück schwarze Musik gemacht wird, nur durch Assoziieren, das ist schlichtweg grandios. Dieses Lied (wie auch "Blue Velvet" selbst) wird man danach nie wieder so anhören wie früher.
Orbison selbst war zuerst geschockt, sah dann aber die Genialität des Ganzen: "Er gab dem Lied eine völlig neue Bedeutung, wie auch das Lied perfekt in den Film passte. Denn der Film zeigt, wie es wäre, sich wirklich in Träumen ("In Dreams") zu bewegen". So ist "Blue Velvet", so sind Lynchs beste Werke. Großartige, unvergessliche, an Eindrücken reiche, süchtig machende Traumwelten. Wie sagt da eine Figur in "Dune": "Der Schläfer muss erwachen". Aber erst später bitte. Viel, viel später.
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