Eines muss der Neid den zahllosen Plagiatoren in der Zelluloidwelt lassen: Sie orientieren sich an den Besten, gerade im Genrebereich. Weswegen im Bereich Science Fiction-Action gerne von den beiden Alienfilmen geklaut wird, von den beiden Terminator-Actionkrachern, oder dass z.B. John Carpenters "Die Klapperschlange" oder George Millers "Mad Max"-Trilogie beliehen werden. Kein Film wird jedoch öfter kopiert, oder sagen wir etwas freundlicher: zitiert, als Ridley Scotts "Blade Runner". Dieser Film ist für die moderne Kino-SciFi das, was "Metropolis" für die Anfänge des phantastischen Films war, und man kann ohne Übertreibung behaupten, dass "Blade Runner" der stilistisch bedeutendste und einflussreichste Film der letzten zwanzig Jahre ist. Ob nun europäische Liebeserklärungen an Hollywood-Sciencefiction wie "Das fünfte Element" oder Filme so jüngeren Datums wie "A.I." oder "Star Wars Episode 2: Angriff der Klonkrieger", sie alle machen sich die Vision von "Blade Runner" zu nutze und nutzen sie für sich. Diese Position rückt ihn in die Nähe von "Matrix", dessen Stil den Look von Actionsequenzen in den letzten Jahren prägte und dies wohl auch noch weiter tun wird, bis der erste wirklich stilprägende Film des neuen Jahrtausends daher kommt.
Der Vergleich mit der Matrix liegt auch deshalb nahe, da sich die Qualität dieser Filme fast ausschließlich im Äußeren widerspiegelt. Obwohl inhaltlich alles andere als dumm, nehmen Story und Charaktere einen hinteren Platz ein gegenüber der fantastischen Mischung aus prächtigen Bauten und grandios atmosphärischer Musik. Gerade das Produktionsdesign von "Blade Runner" sucht noch immer seinesgleichen. Dies ist eine künstliche Welt nicht nur zum Bestaunen von außen, sondern zum Erleben von innen, selten hat man sich so komplett in eine andere Welt begeben wie hier. Das fordert Nachahmung. Es ist müßig, die endlosen Innovationen und Blaupausen zusammenzutragen, die dieser Film geliefert hat, es sei nur kurz angerissen: Die Noir-Fotographie des Films war wegweisend für eine (kleine) Renaissance dieses Stils. Die Stadt, in der es nie zu regnen aufhört, ohne sie wären Genrewunderwerke wie "Sieben" oder "The Crow" nicht dieselben. Die endlos hohen Wolkenkratzer und die damit verbundene Aufteilung zwischen Haben und Nichthaben wurde von nahezu jedem in der Zukunft spielenden Film übernommen, liegt allerdings auch auf der Hand. Die fliegenden Transportmittel sind mittlerweile ebenfalls aus keinem Genrefilm mehr wegzudenken. Dies alles untermalt und kongenial begleitet von Vangelis' Score, für den der Begriff "musikalische Landschaften" relativiert werden muss, so untrennbar sind diese wunderbaren Stücke mit ihrer Herkunft verbunden (und lassen getrennt davon den Film vorm geistigen Auge wiederauferstehen).
Bleibt noch die Story selbst, die als Quasi-Detektivfilm eine perfekte Symbiose mit dem Film Noir-Look eingeht. Sie basiert auf dem Roman "Do Androids Dream Of Electric Sheep?" von Philip K. Dick, und bei diesem Namen kriegen SciFi-Fans feuchte Augen, denn nicht nur gehören seine Stories zum Feinsten, was das Genre hervorgebracht hat, auch die Adaptionen sind nahezu ausnahmslos tadellos: Neben "Blade Runner" sei da nur der (sehr lose adaptierte) "Total Recall" genannt oder der unterbewertete "Screamers". Und selbst Steven Spielberg ließ es sich nicht nehmen, sich mit "Minority Report" erfreulich erfolgreich an Material des genialen Phantasten zu versuchen.
Die Geschichte selbst sollte allgemein bekannt sein, daher hier nur ganz kurz: In der Zukunft - wir befinden uns im Los Angeles des Jahres 2019 - werden künstliche Menschen, genannt Replikanten, für Sklaven- und Schwerstarbeit auf anderen Planeten eingesetzt und haben eine vorprogrammierte begrenzte Lebensdauer. Unter der Leitung von Anführer Batty (Rutger Hauer) revoltieren vier der Replikanten und begeben sich illegalerweise auf die Erde, um von ihrem Schöpfer Tyrell eine verlängerte Lebensdauer zu erzwingen. Deckard (Harrson Ford) wird auf die Replikantenrenegaten angesetzt. Er ist ein ‚Blade Runner', ein speziell trainierter Replikantenjäger, dessen Aufgabe es ist, flüchtige Replikanten aufzuspüren und zu exekutieren ("retiring" nennt man dies so euphemistisch wie herzlos in dieser brave new world). Deckard verliebt sich in Tyrells Assistentin Rachel (Sean Young), eine Replikantin, und muss sich im Verlauf seiner Jagd immer mehr fragen, welche moralischen Konsequenzen sein Job hat.
Die Figur des Deckard ist nach klassischen Noir-Vorbildern gestrickt: hartgesotten aber mit Hang zur Melancholie und natürlich im Trenchcoat unterwegs. Interessanter noch die Replikanten, die sich in klassischer Anlehnung an den Frankensteinmythos gegen ihren Schöpfer wenden. Allen voran Batty, der gegen Ende des Films mittels (nicht immer subtiler) Symbolik zu einer Jesusfigur ausgearbeitet wird. Wie erwähnt, kann die Geschichte zuweilen nicht ganz mit dem genialen Äußeren mithalten. So wirken kleinere Figuren wie z.B. Tyrell wenig ausgearbeitet und auch die Liebesgeschichte zwischen Deckard und Rachel kann das Gefühl des Gezwungenen nie ganz abschütteln.
Andererseits bietet die Geschichte trotz dieser Mängel eine immer noch faszinierende Abhandlung zum Thema menschliches und künstliches Leben, wie weit beide gehen können und gehen sollten, und was genau uns eigentlich zum Menschen macht. Dies passiert auch und vor allem in Kleinigkeiten. Wenn etwa Deckard die Eule in Tyrells Festung begutachtet und fragt ob sie künstlich wäre, worauf Rachel antwortet "Natürlich ist sie das". Ein einziger Satz nur, in dem aber im Grunde schon alles gesagt wurde über die Selbstverständlichkeit, mit der die Grenze zwischen natürlichem und künstlichem Leben verwischt wird. Diese Thematik wird dann vorangetrieben bis zu Battys großartigem Sterbedialog, aber es ist eine kleine Szene in der Mitte des Films, die diese am beeindruckendsten behandelt: Als Deckard gefühllos Rachels Kindheitserinnerungen als die von Tyrells siebenjähriger Nichte entlarvt (weil es bei allen Replikanten Einheitserinnerungen sind) wird implizit die Frage aufgeworfen, wer in diesem Moment mehr Menschlichkeit aufweist. Wie dann Rachel in Tränen ausbricht, da sie die schreckliche Wahrheit ahnt, und der gefühlsmäßig noch nicht ganz abgestumpfte Deckard dann unbeholfen versucht, sie davon zu überzeugen, er habe nur Spaß gemacht; dies alles ist subtil und aussagekräftig zugleich. Ganz große Klasse.
Dabei hat es lange gedauert, sehr lange sogar, bis man Ridley Scotts visionäres und unbequeme Fragen stellendes Epos so genießen konnte, wie es gedacht war. Denn die unbequemsten Fragen wurden gegen Ridley Scotts Willen ausgespart und der Film, der 1982 in die Kinos kam, war nicht der, den Scott und seine Crew sich vorstellten. Die Produzenten hatten Angst, dass die Zuschauer die Story nicht verstehen würden, und das offene, eher düstere Ende verstörte das Testpublikum, welches offenbar lieber ein ‚sauberes' Happy End wünschte. Was macht man also als Produzent, um das Publikum in sein Glück zu zwingen? Man verfrachtet z.B. Harrison Ford in ein Aufnahmestudio, um ihn das Geschehen völlig unnützerweise aus dem Off kommentieren zu lassen, was dieser dann mutwillig besonders schlecht und teilnahmslos tat, in der Hoffnung, seine Sätze würden daher keine Verwendung finden. Was natürlich ein Irrglauben war. Noch dreister nur noch, wie man sich aus Ausschussmaterial von Stanley Kubricks "Shining", ein wenig Farbfilter, einer winzigen Szene mit Ford und Young im Auto nebst Offkommentar ein Happy End bastelte. Von Deckard der Tatsache versichert, dass Replikantin Rachel kein Enddatum hat, konnte sich auch der letzte kleingeistige Zuschauer entspannt in den Kinosessel zurücklehnen und sich nicht etwa (wie beim ursprünglichen Ende) fragen, ob die geliebte Rachel nicht auch demnächst den Geist aufgeben müsste. Dass dieses verhackstückte und schlichtweg dämliche Ende diverse Logikprobleme hinterließ, wurde dabei weitestgehend missachtet: Hatte Deckard eine Eingebung oder woher weiß er um Rachels Lebensdauer? Und warum leben Millionen von Menschen in einem stinkenden, verregneten Moloch von Stadt, wenn die schöne Natur doch offensichtlich unangetastet und direkt vor der Nase liegt? Fragen über Fragen, die dieses dümmliche Möchtegern-Ende einfach ignoriert.
War dieser skandalöse Eingriff in Scotts künstlerisches Schaffen nicht schon schlimm genug, wurde für den verzweifelten Fan noch eines drauf gesetzt. Statt der fantastischen Originalmusik von Vangelis wurde aufgrund rechtlicher Streitereien eine nachgespielte, von einem gewissen New American Orchestra gründlich geplättete und versuppte Muzakversion veröffentlicht. Zusammenfassend: Die Begleitmusik eine schlechte Parodie ihrer selbst, der Film ein von außen empfindlich gestörtes Kompromisswerk. Konnte sich der "Blade Runner" aller dieser Umstände trotzend vielleicht doch durchsetzen? Natürlich nicht. 1982 sahnte nur eine nicht menschliche Lebensform an den Kinokassen ab, und dass war Knuddelalien "E.T.". Weder John Carpenters grandioses, aber zutiefst pessimistisches und zudem extrem blutiges Remake von "Das Ding" noch Scotts Replikantensaga konnten den kommerziellen Erfolg für sich verbuchen, den sie verdient hatten. Was vielleicht auch ein wenig als Zeichen der Zeit zu sehen ist. Denn in den beginnenden Jahren der Reagan-Ära mit ihrem aufkeimenden Konventionalismus widersprachen diese Werke schlichtweg der damaligen Gesinnung und waren wohl einfach ein paar Nummern zu unbequem für die breite Masse.
Wie viele zu ihrer Zeit verkannte Filme wurde "Blade Runner" durch Kritiker, Akademiker und Fans gerettet. Indem sich Ridley Scotts Bilder immer mehr als prophetisch und stilbildend erwiesen und die Story die Möglichkeit intelligenter Science Fiction hervorhob, wurde "Blade Runner" quasi nachträglich unisono zu dem Meisterwerk deklariert, das der Film ohne Frage und bei allen Schwächen ist. Anfang der 90er befand man es dann an der Zeit, dem Publikum den ‚echten' "Blade Runner" zu präsentieren. Das Phänomen ‚Director's Cut' hatte gerade seinen Anfang genommen. Während diese Art, mit einem Film zweimal Geld zu verdienen, gerade in den letzten Jahren durch fragwürdige ‚Neufassungen' eher despektierlich als Abzocke empfunden wird (und werden kann), waren die ersten Director's Cuts noch das künstlerisch wertvolle Ereignis, das sie sein sollten. Obwohl auch bei "Blade Runner" der Versuch der Abzocke aufgrund der Herkunftsgeschichte nicht ganz von der Hand zu weisen ist, spricht das Ergebnis, der "Director's Cut" von 1993, für sich: Ridley Scotts Version intakt und wiederhergestellt, minus der störenden Offkommentare und des angeklebten falschen Happy Ends, dafür mit etwas schärferer Charakterzeichnung und einer zusätzlichen, vormals verlorenen quasi-legendären Szene. Diese ist lediglich eine gute halbe Minute lang und zeigt Deckards Traum von einem Einhorn. Sie verstärkt eine Interpretation des Films, die Fans bereits frühzeitig aufstellten: Deckard, der Blade Runner, der Replikantenjäger, ist selbst eine künstliche Lebensform. Ob diese Szene jetzt so imminent wichtig ist, wie sie von vielen Beobachtern empfunden wurde, sei einmal dahingestellt, wichtig ist, dass sie Teil von Ridley Scotts Originalfilm ist und dass dieser jetzt so zu genießen ist wie ursprünglich gedacht. Und das Freudenfest für Fans hörte gar nicht mehr auf, denn ein Jahr später war es Vangelis auch endlich möglich, seinen Originalsoundtrack zu veröffentlichen, in Originallänge und bekannter Klasse.
Ende gut, alles gut? In mehr als einem Sinne. Denn das Album schließt statt mit dem Titelthema - für sich genommen selbst ein Klassiker - weise und wissend mit "Tears in Rain", dem schönsten Stück des ganzen Soundtracks und damit gleichzeitig mit der Erinnerung an die schönste Einzelszene des Films, einer dieser ganz, ganz großen Filmmomente. Rutger Hauer - in der besten Rolle und mit der besten Darstellung seiner Karriere - reflektiert über Leben und Sterben:
"I've seen things you people wouldn't believe.
Attack ships on fire on the shoulder of Orion.
I watched C-Beams glittering down Tannhäuser's Gate.
All these moments will be lost in time
like Tears in Rain.
Time to Die."
Amen. Und dann lächelt Replikant Batty, senkt einfach den Kopf und stirbt. Nur noch eine weiße Taube steigt zum Himmel. Selbst John Woo würde vor Rührung weinen.
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