Die Autorin Dörte Hansen schreibt Romane, in denen sie mit feinem Gespür für Charaktere und Atmosphäre verschiedene Facetten des Lebens in ihrer norddeutschen Heimat auslotet. In ihrem ersten Roman "Altes Land" nahm sie das Phänomen der Großstädter aufs Korn, die mit einer diffusen Sehnsucht nach Heimatgefühl Landflucht betreiben und in beschauliche alte Bauernhäuser ziehen, nur um sich dort dann doch fremd zu fühlen. Nachdem "Altes Land" als Zweiteiler fürs Fernsehen verfilmt wurde, ist Hansens zweiter Roman "Mittagsstunde" nun unter der Regie von Lars Jessen fürs Kino verfilmt worden. Mit großartigem Ergebnis.
"Mittagsstunde" erzählt von Ingwer Feddersen (Charly Hübner), der aus seinem Kieler Großstadtleben in sein Heimatdorf aufm platten Land in Schleswig-Holstein zurückkehrt, um sich um seine pflegebedürftigen Eltern zu kümmern. Die eigentlich gar nicht seine Eltern, sondern seine Großeltern sind. Denn Ingwers Geburtsgeschichte ist ein bisschen komplizierter, wie auf den zwei anderen Zeitebenen der Erzählung in den 1960er und 70er Jahren verdeutlicht wird.
Roman und Film erzählen dabei nicht nur eine spezifische Familiengeschichte, sondern am Beispiel der Feddersens und ihrem (fiktiven) Heimatdorf Brinkebüll auch vom Wandel dieser Region und dem langsamen Sterben eines Stücks Heimatkultur. Denn wenn Ingwer als Erwachsener mit fast 50 Jahren heimkehrt, ist von dem Ort seiner Kindheit nicht mehr viel übrig. Die Auswirkungen von Flurbereinigung, Strukturwandel und Urbanisierung werden hier mit klaren, aussagekräftigen Bildern eingefangen - so wie der gesamte Film von seiner starken Bildsprache lebt.
Das muss er auch, denn getreu dem Roman und dem tatsächlichen Naturell der Menschen, von denen "Mittagsstunde" erzählt, wird hier nicht viel "gesabbelt": Die norddeutsche Seele ist eine wortkarge, und so müssen die Bilder hier schon zwangsweise viel von dem erzählen, was die Menschen nicht über die Lippen bringen. Wenn sie reden, reden sie in Brinkebüll übrigens authentisches Plattdeutsch. Zumindest, wenn man sich die "Original-Version mit Untertiteln" anguckt. Der Film wurde in zwei Fassungen gedreht: einmal auf Platt, einmal auf hochdeutsch. Wer in seinem örtlichen Kino-Angebot die Wahl hat, dem legen wir dringend die Platt-Version ans Herz. Denn der Original-Dialekt der Region trägt in unschätzbarer Weise zur authentischen Atmosphäre des Films bei. Und diese ist seine herausragende Stärke.
"Mittagsstunde" hat auf reiner Plot-Ebene nicht viel zu erzählen. Hier wird über Momentaufnahmen auf seinen drei Zeitebenen eine Welt gezeigt, aber nicht groß eine Geschichte ausgebreitet. "Mittagsstunde" ist vor allem ein Stimmungsfilm, aber dies auf wirklich großartige Weise. Meine Frau, die im Gegensatz zu mir den Roman gelesen hatte und selbst "nordisch by nature" ist, war im Kino vom ersten Bild an vollkommen selig - genauso hatte sie es sich vorgestellt, und die eigentümliche Tristesse dieses Ortes, die der Roman zum Leben erweckt hatte, ist auch auf der Leinwand in jedem liebevoll ausgeführten Detail zu spüren.
Getragen von herausragenden Darstellern spielt "Mittagsstunde" auch den feinen, mit leiser Tragik untermalten Humor in seiner Erzählung wundervoll aus, wobei das trocken-lakonische Understatement in der norddeutschen Seele wiederum bestens zum Tragen kommt. Da wird dann der schlichte Satz "Das ist ja ein schönes Kuddelmuddel bei uns" zum gelungensten Brüller des Films.
Schlicht, wahnsinnig authentisch und stimmungsvoll und mit grandiosem Gespür für seine Figuren und seine Welt ist "Mittagsstunde" ein kleiner Glücksfall fürs deutsche Kino - zeigt er doch, dass entgegen gängiger Vorurteile auch hierzulande richtig tolle Filme entstehen können, wenn alle Beteiligten mit echtem Herzblut bei der Sache sind. Unbedingte Empfehlung.
Neuen Kommentar hinzufügen