Anatomie

Jahr
1999
Laufzeit
103 min
Genre
Release Date
Bewertung
5
5/10
von Frank-Michael Helmke / 30. Mai 2010

Politiker, Anwälte, Journalisten und Ärzte. Das sind wohl die vier Berufsgruppen, die den größten Einfluß auf unsere Gesellschaft haben. Interessanterweise genießt nur einer dieser vier Berufe ein allgemein hohes Ansehen. Denn einzig die Ärzte umgibt eine Aura von Wissen, Intelligenz, Können und Reinheit, und vor allem die unschätzbare Fähigkeit, Leben zu retten. Dieses positive Bild von den Halbgöttern in Weiß könnte nach dem Besuch von „Anatomie“ ein paar Kratzer bekommen.

Paula heißt die Hauptperson einer Produktion, die für sich den Anspruch erhebt, der erste deutsche Horror-Thriller mit Niveau zu sein. Paula (Franka Potente) ist aufstrebende Medizin-Studentin mit Familientradition. Der Papa ist ein einfacher Kinderarzt, aber der Großvater ist einer der ganz wichtigen Namen in der Forschungswelt, und dessen Fußstapfen gilt es zu füllen. Paula wird für den Sommer zu einem prestigeträchtigen Anatomie-Studiengang an die Uni Heidelberg eingeladen, wo sie unter der nationalen Koryphäe Professor Grombek wochenlang Leichen zerschnibbeln darf. Die Begeisterung über diese Chance wandelt sich alsbald in Entsetzen, als sie schon nach wenigen Tagen die Leiche des jungen David vor sich auf dem Tisch hat, ein 22jähriger mit kompliziertem Herzfehler, dem Paula im Zug nach einem Schlaganfall das Leben gerettet hatte. Stutzig gemacht durch diesen plötzlichen Tod beginnt Paula mit Nachforschungen und stößt dabei bald auf einige medizinische Ungereimtheiten, die sie nicht nur zu einem unschönen Medikament, sondern auch auf die Spur eines alten Geheimbundes, den Antihippokraten, führt. Ihre Kommilitonen interessiert das wenig. Die hochintelligente Super-Blondine Gretchen (Anna Loos) denkt sowieso die ganze Zeit nur an den Paarungsakt, wogegen der Muskelprotz Hein (Benno Fürmann) nicht wirklich etwas einzuwenden hat, und auch der Sunnyboy Phil (Holger Speckhahn) würde Gretchen gerne mal ins Blüschen lugen. Der mysteriöse Caspar (Sebastian Blomberg) interessiert sich mehr für Paula, und die hat schon bald andere Sorgen, als sich den Annäherungsversuchen zu widersetzen.

„Einen waschechten Schocker, der Jugendliche unterhalten soll, den sie als lustig empfinden sollen“ wollte Regisseur und Autor Stefan Ruzowitzky laut Produktionsnotizen machen. Das zumindest ist ihm ganz gut gelungen. Für mehr hat es allerdings nicht gereicht, weshalb diese Selbstanforderung wohl eher als Selbstbeschränkung endete. Denn letztendlich tut „Anatomie“ nicht mehr, als Ideen und Konzepte diverser amerikanischer Filme der letzten Jahre abzugrasen, im Magen zu vermischen und anschließend genüßlich wiederzukäuen. Der Mediziner-Geheimbund der „Antihippokraten“, der hinter all dem stecken soll, hat sich einzig der Forschung verschrieben, so daß menschliche Opfer legitimiert werden, wenn sie der Forschung und damit der Weiterentwicklung der Medizin dienen können. Der Film ist sich nicht zu schade, den Namen Mengele als berühmtestes Mitglied der Organisation ins Spiel zu bringen, die provokative Idee wird nur leider kein bißchen vertieft. Während in „Extrem – mit allen Mitteln“ noch ein ganzer Film um dieses ethische Problem gestrickt wurde, ob man einige Menschen opfern darf, um viele andere zu retten, dient das ganze in „Anatomie“ nur als Aufhänger. Der Geheimbund entpuppt sich als völlig zweitrangig, stattdessen vollführt der Film nach einer knappen Stunde eine Kehrtwende auf dem Absatz und entpuppt sich als 08/15-Psychopathen-Schocker. Womit die anfänglichen Ansätze subtilen Horrors ebenfalls verschwinden. Wenn in den ersten Minuten ein Opfer auf dem Seziertisch aufwacht, unter Einfluß eines Medikaments aber seine Glieder nicht mehr bewegen kann, und dann zusehen muß, wie zwei Herren seinen Arm skelettieren, dann ist das zwar ein kleines bißchen ekelig, packt den Zuschauer aber auch gleich bei den Eingeweiden.

Die Angst vor den Fähigkeiten der Medizin wird geschürt, es braucht nichts weiter als zwei schnell gesetzte Spritzen, um zu einem Testobjekt für geltungsgeile Wissenschaftler reduziert zu werden. Ist der Spinner aber erst einmal entlarvt, wird fröhlich drauflos gemetzgert, und die subtilen Möglichkeiten der „Heilkunde“ beschränken sich auf die Tatsache, daß nichts so gut schneidet wie ein ordentliches Skalpell. Das ist ja alles noch entschuldbar, schließlich will man ja einen Horrorfilm für das breite Publikum machen. Das Problem liegt in der Wirkung. Wenn die Studenten am Anfang erstmals das neue Anatomie-Gebäude betreten, dann fällt auf, daß so ein häßliches, graues und steriles Haus niemals auf dem Campus der traditionsbewußten Heidelberger Uni stehen würde. Im Inneren macht sich ein Gefühl von Kälte und Gefühllosigkeit breit, das sicherlich symptomatisch ist für elitäre Medizin-Studenten und ihre Lehrenden, der Normalo verliert aber bereits hier jegliches Sympathiegefühl für die Protagonisten. Ein Haufen eingebildeter, arroganter Snobs, die sich für die tollsten Reißer halten, im entscheidenden Moment aber keinen hoch bekommen, das ist nicht gerade der Stoff, aus dem man Identifikationsfiguren schneidert. Und dementsprechend egal ist es einem dann auch, wenn die ersten Leute hopps gehen. Noch dazu in einer Situation, die geradezu danach schreit, daß jemand abgeschlachtet wird. Woran „Anatomie“ vor allem scheitert, ist der Aufbau von Horror. Der Regisseur wollte angeblich die „Blair Witch“-Variante wählen: Horror ist dann am effektivsten, wenn man ihn nicht sieht. Falls das wirklich seine Absicht war, dann hat er irgendwas falsch gemacht, denn in diesem Film sieht man wirklich alles, vom Skalpellschnitt bis zur hübsch präparierten Leiche, ohne daß auch nur irgendwas davon wirklich schocken würde. Es ist manchmal ein klein wenig ekelig, aber erschrecken kann man sich dabei nicht.

Trotz alledem bietet „Anatomie“ solide Unterhaltung. Die Darsteller machen aus ihren einfach gestrickten Klischee-Figuren das beste, vor allem Sebastian Blomberg gibt seinem Charakter die dringend erforderliche Undurchsichtigkeit. Holger Speckhahn wirkt in seinem Spielfilm-Debüt allerdings wenig überzeugend. „Die Idee hinter seiner Besetzung war, diese Horrorfilm-Tradition aufzugreifen, junge Fernsehstars für Rollen zu gewinnen“ sagt der Regisseur. Abgesehen von der Tatsache, daß diese „Tradition“ gerade mal drei Jahre alt ist, sollte man wenigstens Schauspieler dafür nehmen, keine moderierenden Grinsekatzen. Und außerdem muß man den Amerikanern ja nicht alles nachmachen. Freunde des einfach gestrickten Horror-Kinos kommen hier halbwegs auf ihre Kosten, wer allerdings wirklich erschreckt werden will, sollte genauso zu Hause bleiben wie jene, die ihren Spaß darin suchen, die Täter möglichst schnell zu entlarven. In diesem Belang ist „Anatomie“ seinem Publikum gegenüber nämlich absolut unfair: Hinweise sucht man vergeblich, wenn sich die Täter enttarnen, dann muß man das so akzeptieren. Am Schluß des Films, nachdem der Abspann schon angelaufen ist, versucht der Film noch eine Schlußpointe zu setzen, die allerdings auf einer Idee aufbaut, welche im restlichen Verlauf überhaupt nicht aufgegriffen wurde, und somit auch völlig wirkungslos verpufft. Das ist schade, denn hätte „Anatomie“ mehr mit diesem Ansatz gespielt, dann wäre vielleicht etwas interessanteres herausgekommen als das: Alte Versatzstücke neu zusammengenäht, Film-Anatomie auf der einfachsten Stufe.


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