Was zum Teufel kann einen eigentlich an England begeistern? Regnen tut es dort dauernd, aber kochen kann dafür da drüben keiner. Wenn es etwas gibt, wofür man die Insulaner doch irgendwie gern haben muss, dann ist es die Regelmäßigkeit, mit der dort filmische Juwelen produziert werden. Und Gott sei’s gedankt beschränkt sich das nicht nur auf die zurecht beliebten verschrobenen Komödien wie „Ganz oder gar nicht“ oder „Grasgeflüster“.
Titelheld Billy Elliott (Jamie Bell) hat es als 11-jähriger in Nordengland Mitte der 80er Jahre wahrlich nicht einfach. Es ist die Zeit der großen Streiks unter den Minenarbeitern, und unglücklicherweise sind sowohl Bruder David (Jamie Draven) als auch Vater Jackie (Gary Lewis) normalerweise unter Tage tätig. Momentan rennen sie aber eher schreiend und eierwerfend gegen Polizeiaufgebote und Streikbrecher an. Also muss Billy zu Hause auf die senile Oma (Jean Heywood) aufpassen. Das knappe Geld steckt Papa Elliott in Sohnemanns Boxunterricht, aber als eines Tages eine Ballettklasse unter Leitung der resoluten Mrs. Wilkinson (Julie Walters) in das Box-Gym einmarschiert, verändert sich Billys Leben schlagartig. Fasziniert von den grazilen Bewegungen der Ballerinen schleicht er sich in die Ballettklasse und wird von Mrs. Wilkinson zum Mitmachen gedrängt, die sofort Billys Potential erkennt. Also tauscht Billy die Boxhandschuhe gegen Ballettschuhe ein. Dies geht so lange gut, bis Vater herausfindet, dass Billy Elliott das hart ersparte Geld verschwendet – und dann auch noch für etwas derart unmännliches wie Ballett! Aber Billy ist bereit für seinen Traum zu kämpfen. Schließlich plant Mrs. Wilkinson, ihn an der renommierten Royal Ballet School in London vortanzen zu lassen...
„Billy Elliott“ – bei den Filmfestspielen von Cannes zurecht bejubelt – ist der erste Film vom Theaterregisseur Stephen Daldry, und ein beeindruckenderes Debüt ist schwer vorstellbar. Mit erstaunlichem Gespür für die Stärken seiner Figuren und punktgenauer Inszenierung bringt er uns die eigentlich uralte Geschichte vom Erfüllen des eigenen Traums gegen alle Widerstände. Aber wen kümmert der zumindest halbwegs alte Wein, wenn er in derart prachtvollen Schläuchen wie hier serviert wird? Eben!
Großartig das von Lee Hall verfasste Drehbuch, das jeder Figur eine erstaunliche Präsenz ermöglicht. Und noch viel erstaunlicher, mit welch traumwandlerischer Sicherheit das Skript den harten Sozialrealismus jener Zeit mit poetischen oder schreiend komischen Szenen vermischt. Wenn etwa Billys Freundin Debbie (Nicola Blackwell) im Gespräch gedankenverloren mit einem Stock über die Mauern hinter ihr streicht und gar nicht merkt, wie sie dazwischen die Schutzschilder einer Polizeiarmada entlang rattert, das hat einfach klasse. Milieuschilderung und Sozialkritik sind immer präsent, werden aber nie plakativ in den Mittelpunkt gerückt. Damit hat Daldry dann genug Raum für seine hervorragenden Schauspieler.
Jamie Bell als Titelheld verleiht seiner Figur eine unglaubliche Dynamik und Tiefe, was für einen 13-jährigen wirklich erstaunlich ist. Ebenfalls äußerst bemerkenswert: Stuart Wells, der als Billys gleichaltriger Freund Michael im zarten Alter von elf seine Homosexualität entdeckt. Auch Gary Lewis als knorriger und simpler aber sympathischer Vater und Julie Waters als burschikose Ballettlehrerin füllen ihre Rollen hervorragend aus. Die Show stiehlt ihnen allen aber fast Jean Heywood als senile Großmutter, die zwar reichlich verwirrt ist, dafür aber die unglaublichsten Kommentare auf Lager hat.
Gestützt von dem herausragenden Ensemble verliert die am Ende doch etwas konventionelle Geschichte nie an Biss, und vor allem nie an Herz. Und zwischendrin hat Daldry sogar Zeit für wahrhaft magische Kinomomente: Als Debbie und Billy zusammensitzen und sie zaghaft über sein Haar streichelt, kommt die übliche neckische Kissenschlacht, an deren Ende beide Gesicht an Gesicht einen Moment der Spannung halten. In Hollywood (und bei den Erwachsenen) käme jetzt der leidenschaftliche Kuss samt einsetzender Schmalzmusik, aber stattdessen fängt Debbie – unsicher und verwirrt – an, zart und langsam Billys Wange zu streicheln und die Filmzeit steht plötzlich für eine kleine Ewigkeit still. Eine Liebesszene wie ein Gemälde: Schöner und aufrichtiger als alles vergleichbare, was dieser Cineast bisher gesehen hat.
Allerspätestens in den toll choreographierten Tanzszenen wird der besondere Zauber von „Billy Elliott“ deutlich. Wenn Billy anfängt zu tanzen, ist das an Ausdruckskraft kaum zu überbieten und alle Center Stager, A Chorus Liner oder Flashdancer mitsamt ihrem popeligen American Dream unterm Arm können getrost einpacken gehen.
„Billy Elliott“ ist eines jener Filmjuwelen, das in der übermächtigen Flut von mediokrer Hollywoodware immer schwieriger zu finden ist und sollte daher um so mehr ans Herz gelegt werden. Wer in diesem Winter wieder herausfinden möchte, was das großartige daran ist, ins Kino zu gehen, sollte sich „Billy Elliott“ ansehen. Und das gilt beileibe nicht nur für Leute, die sich für Tanzfilme interessieren. „Das Geheimnis beim Tanzen ist, das es um wesentlich mehr als nur das Tanzen geht“ ist einer der Kernsätze des Films, und da ist wahrlich einiges dran. Wenngleich man ob der poetischen Kraft von Billys Darbietungen widersprechen will. Denn egal was drum herum passiert: Es ist nur der Tanz, der zählt.
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