Das London des 19. Jahrhunderts ist ein düsterer Ort - aber nicht halb so düster wie die Rachegedanken von Titelheld Sweeney Todd (Johnny Depp). Der war vor fast 15 Jahren aufgrund einer Intrige des Richters Turpin (Alan Rickman) aus London in ein Gefangenenlager in Übersee verschleppt worden. Jetzt ist Todd zurück, um sich blutig an denen zu rächen, die den Verlust von Frau (tot) und Tochter (nun in der Obhut Turpins) zu verantworten haben. Todd lässt sich in seiner alten Unterkunft nieder, sehr zur Freude der jetzigen Hausbesitzerin Mrs. Lovett (Helena Bonham Carter). Deren Geschäft für Fleischpasteten im Erdgeschoss hat schon bessere Tage gesehen - und wird diese mit der Ankunft des psychotischen Herrn Todd auch wiedersehen. Denn mit dem Rasiermesser-schwingenden Barbier im Obergeschoss gibt es bald jede Menge Nachschub an Frischfleisch für die Pastetenherstellung....
Johnny und Tim(my) - das Traumpaar des fantastischen (in allen Wortsinnen) Films ist zurück. Und manche Dinge sind business as usual: das herausragende Ausstattungs- und Setdesign, die theatralische Ausleuchtung, die Überstilisierung aller Elemente. All das prädestiniert Tim Burton ja schon mal für eine Musicalverfilmung, und die letzten Filme waren da fast schon Vorboten: Die Paraden singender Umpa-Lumpas in "Charlie und die Schokoladenfabrik", die Musiksequenzen in "Hochzeit mit einer Leiche" - alles deutete in diese Richtung.
Es fehlte dann nur das richtige Ausgangsmaterial, und da bietet sich ja kaum etwas mehr an als Stephen Sondheims düster-blutiges Musical "Sweeney Todd", basierend auf einer urbanen Legende aus der Zeit, in der die Geschichte spielt. Das konnte bei der Premiere 1979 das Publikum nachhaltig schockieren - und kann es in Burtons fähigen Händen vielleicht auch heute noch. Denn eines ist klar: Blutiger als hier war die Geschichte um den dämonischen Barbier der Fleet Street wohl noch nie.
Das Kunstblut fließt hier in Strömen, oder korrekter: in Fontänen. Wenn Sweeney Todd seinen Opfern die Kehle durchschneidet, hält der Regisseur fröhlich drauf und ergötzt sich an dem klebrigen roten Zeugs überall. Mit Peter Gabriel könnte man im Musicalmodus singen: "Red rain is coming down, red rain". Es sind die einzigen Farbkleckser in einer ansonsten komplett in Schwarz und Grau gehaltenen, in ihrer konsequenten Düsternis beeindruckenden Kunstwelt, die Burton hier wieder mal erschaffen hat, diesmal mit Dariusz Wolski an der Kamera. Die Grand Guignol-inspirierten Splattersequenzen zielen dabei eindeutig eher auf die Lachmuskeln, denn den Würgereflex, aber zarte Seelen seien trotzdem gewarnt.
Andererseits sollten sich sowieso keine fanatischen "Cats"-Gucker in diese Geschichte verirren, in der sich Blutlachen mit Kannibalismus vereinen, misshandelte Kinder ihr tristes Schicksal mit der Alkoholflasche bekämpfen und Erwachsene minderjährigen Mädchen nachsteigen. Dann werfe man noch eine Schippe Vulgarität in den Songtexten in die Mischung und fertig ist ein blutrotes Unterhaltungspaket für die ganze Familie - wenn man denn zur Addams Family gehört.
Aber das Wort "Musical" ruft ja, und durchaus zurecht, bei manchen Leuten einen größeren Brechreiz hervor denn Blut und Gedärme auf der Leinwand. Dieser Spezies der Musical-Hasser sei hiermit Entwarnung gegeben: Alles, was man an den gelackten, klischierten, den kleinsten gemeinsamen Nenner bedienenden Revuenummern nicht mag, wird hier vermieden. Außer dem Gesang natürlich. Aber auch dieser ist abseits seelenlosen Professionalismus der "Phantom der Oper"-Varietät. Denn mit dem Ensemble hier hat man natürlich keine professionellen und ausgebildeten Sänger vor sich, was man hier und da auch hört, aber es ist einem trotzdem tausendmal lieber als Vier-Oktaven-Stimmen ohne Charisma dahinter.
Und wenn man dem "Sweeney Todd"-Ensemble eines nicht absprechen kann, dann das Charisma. Besonders Johnny Depp sticht hier natürlich wieder hervor, wie nicht anders zu erwarten. Sein Sweeney Todd ist dabei so typisch neben der Spur wie sein exzentrischer Piratenkapitän aus "Fluch der Karibik", und die Schnuten, die Depp während einer Traumsequenz von Mrs. Lovett zieht, sind wieder mal unvergleichlich. Mal ganz von der Ansicht von ihm im gestreiften Badeanzug abgesehen. Depp, der nur mit der Schauspielerei anfing, weil seine Band in L.A. kein Bein auf die Erde bekam, zeigt sich auch stimmlich der Herausforderung recht gut gewachsen. Seine limitierte, aber recht angenehm zu hörende Singstimme verwandelt Todd dabei statt einem pompös los singenden Rächer des 19. Jahrhunderts eher in einen sich in Flüstertönen artikulierenden Psychopathen des 21. Jahrhunderts.
Helena Bonham Carter als seine Partnerin zieht sich auch gut aus der Affäre, indem sie die mindestens ebenso psychisch derangierte Mrs. Lovett als enttäuschte Romantikerin spielt, die eigentlich nur mit Todd ein friedliches Familienleben im Haus am Strand haben will, wozu ihr dann jedes Mittel recht ist. Alan Rickman und Timothy Spall als zutiefst verdorbene Bösewichte lassen neben dem ein oder anderen gesanglichen Misston in ihren Rollen selbst kaum Raum für Zwischentöne, das ist aber auch nicht erwünscht. Dafür sind sie aber so herrlich verachtenswert, dass man den entscheidenden Schnitt von Todds geliebten Rasiermessern förmlich herbeisehnt. Und für alle "Borat"-Fans schlüpft Sacha Baron Cohen als Todd-Rivale Adolfo Pirelli wieder erfolgreich in eine Rolle mit absurdem Akzent.
"Sweeney Todd" ist wunderbare Unterhaltung wie alle Burton-Filme. Das einzige, was ihn davon abhält, zu Burtons Meisterwerken zu zählen, ist eine gewisse emotionale Wärme, die noch bei "Hochzeit mit einer Leiche" nachhaltig verzauberte, hier aber doch ein wenig fehlt. Das hat natürlich eher mit Story, Figuren und Konzept zu tun, als mit irgendwelchen Fehlern dieses hervorragend umgesetzten Films. Aber trotzdem geht man nicht mit derselben emotionalen Rührung heraus wie etwa bei "Big Fish" oder "Ed Wood". Vielleicht liegt es dann auch an Stephen Sondheims Songs, die in Ordnung gehen, aber nicht herausragend sind. Es fehlt hier an mitsummbaren oder anderweitig im Gedächtnis bleibenden Nummern.
Was man immerhin nicht vom Film selbst sagen kann, denn der bleibt als schaurig-schönes Musical der anderen Art sehr wohl im Gedächtnis und sei damit den Burton- und Deppfans ebenso ans Herz gelegt wie dem Gorehound von Nebenan, dem freundlichen Typen im Goth-Outfit von gegenüber und jedem Filmfreund mit Lust auf "mal was anderes". Nur "Cats"- und "Mamma Mia"-Fans müssen draußen bleiben!
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