Seitenwechsel

Originaltitel
Passing
Land
Jahr
2021
Laufzeit
98 min
Regie
Release Date
Streaming
Bewertung
6
6/10
von Frank-Michael Helmke / 8. November 2021

Die Geschichte dieses Films begann, als die Schauspielerin Rebecca Hall erst im Erwachsenenalter erfuhr, dass ihr Großvater mütterlicherseits aus einer gemischtrassigen Beziehung stammte. Unter den Gesetzen, die in den langen Jahrzehnten der Rassentrennung in den USA definierten, wer eigentlich als "schwarz" galt, hätte Hall damit ebenfalls als Afroamerikanerin gegolten - die "one-drop rule" besagte, dass bildlich gesprochen ein einziger Tropfen "schwarzen" Blutes in der eigenen Ahnenreihe genügte, um als nicht-weiß eingestuft zu werden.

Die Auseinandersetzung mit diesem Thema führte Hall dann schnell zu einem bedeutenden Roman der afroamerikanischen Literatur, Nella Larsens "Passing" (dt. Titel: "Seitenwechsel") aus dem Jahr 1929, dessen Titel sich an eine weitverbreitete Praxis jener Zeit anlehnte: Nominell "schwarze" Menschen, deren Hautfarbe allerdings so hell war, dass man ihnen ihre teils afroamerikanische Herkunft kaum ansah, gaben sich offiziell als "weiß" aus, um ein von Rassendiskriminierung freies Leben zu führen. Und eine Verfilmung genau dieses Romans machte Hall dann schließlich zu ihrem Debüt als Autorin und Regisseurin.

Die Protagonistin von "Seitenwechsel" ist Irene (Tessa Thompson), die zwar als "weiß" durchgehen könnte und das bei Besuchen in den feineren Gegenden der Stadt auch teilweise nutzt, ansonsten aber ein fest in der afroamerikanischen Community in Harlem verankertes Leben führt. Eines Tages trifft sie ihre alte Schulfreundin Clare (Ruth Negga) wieder und entdeckt, dass diese inzwischen unter einer weißen Identität lebt und mit einem wohlhabenden Weißen (Alexander Skarsgard) verheiratet ist, der von ihrer wahren Herkunft nichts ahnt (tatsächlich entpuppt sich Clares Mann sofort als waschechter Rassist). Irene ist von dieser Begegnung irritiert und verurteilt still die Lebensentscheidung ihrer ehemaligen, extrovertierten Freundin. Die nur vermeintlich glückliche Clare offenbart jedoch bald eine Sehnsucht nach ihren Wurzeln und den Wunsch, wieder mehr Zeit in ihrer ursprünglichen Community zu verbringen. Und so drängt sie sich mehr und mehr zurück in Irenes Leben, was diese nur zögerlich und mit gemischten Gefühlen zulässt. 

Was an "Seitenwechsel" auf den ersten Blick auffällt, ist der klar zur Schau getragene künstlerische Anspruch des Films. Rebecca Hall inszeniert ihr Debüt, als wäre der Film tatsächlich 1929 entstanden - streng in schwarz/weiß und im Bildformat 4:3, an das sich jüngere Generationen heutzutage nicht einmal mehr erinnern werden. Über die historische Authentizität hinaus hat beides aber natürlich auch einen inszenatorischen Sinn: Die Wahl von Schwarz/Weiß ist angesichts des Themas des Films schon beinahe zwingend logisch. Das heutzutage sehr ungewöhnliche Bildformat zwingt die Figuren indes ständig in räumliche Nähe zueinander (sie können sich eben nicht quasi ins Breitbild "flüchten") - eine Nähe, die Irene eben eigentlich gar nicht haben will.

Was an "Seitenwechsel" auf den zweiten Blick auffällt, nachdem der Film ein wenig Strecke geschafft hat, ist, dass sein vermeintlich zentrales Thema immer mehr aus dem Fokus rückt. Je länger der Film dauert, desto weniger geht es um Clares "Passing" und die Konsequenzen, die eine Entscheidung für ein solches Leben mit sich bringt. Und desto mehr rücken die verschiedenen Aspekte im komplizierten Verhältnis zwischen Irene und Clare ins Zentrum.

Hier spielt sich das meiste unausgesprochen und unter der Oberfläche ab, und Hall gibt sich große Mühe, in ihrer bildstarken Inszenierung diese Untertöne anzudeuten, dabei aber stets subtil zu bleiben. Das hat zur Konsequenz, dass man als Zuschauer schon sehr aufmerksam bei der Sache bleiben muss, und sich selbst dann nicht immer sicher sein kann, was die verschlossene Irene tatsächlich bewegt. Ihrer Ehe mit ihrem Mann Brian (André Holland) fehlt es offenbar an Leidenschaft, doch hat Irenes aufkommende Eifersucht auf das enger werdende Verhältnis zwischen Brian und Clare nur damit zu tun, dass sie weiß, wie anziehend die so viel offenherzigere Clare auf Männer ist? Oder ist da auch eine homoerotische Komponente, ein nie ausgesprochenes oder gar ausgelebtes Verlangen Irenes nach Clare? 

Diese thematische Verschiebung irritiert beim Zuschauen, aber tatsächlich ist sie absolut werkgetreu: Hall hält sich streng an den Inhalt von Nella Larsens Roman, denn auch dort war das "Passing" lediglich der Aufhänger für die Geschichte und der Motor für deren finale Auflösung, während es im Zentrum eben vor allem um die vielschichtige und komplexe Beziehung der beiden Frauen ging.

So werkgetreu das auch sein mag, so kommt man beim Zuschauen allerdings nicht umhin sich zu wünschen, dass Hall sich etwas mehr Freiheiten mit ihrer Vorlage genommen hätte, um etwas mehr inhaltliche Ausgewogenheit zu schaffen. Dass ausgerechnet das Thema, was einen in die Erzählung reinzieht, immer mehr in den Hintergrund rückt, bleibt ein Handicap des Films, da die Betrachtung von Irenes Persönlichkeit und ihrer Beziehung zu Clare letztlich nie so richtig fesseln kann - was eben auch daran liegt, dass hier zu viel im Vagen bleibt und die Geschichte nie echte Dynamik erreicht, weil es halt nicht Irenes Persönlichkeit entspricht, die in ihrem Inneren schwelenden Konflikte auch nach außen hin auszuleben.  

"Seitenwechsel" steht sich mit seinem enormen künstlerischen Anspruch und dem unbedingten Willen zur Werktreue gegenüber der Vorlage damit etwas selbst im Weg. Am Ende kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier mehr drin gewesen wäre, wenn Hall den Mut aufgebracht hätte, ihre Vorlage mehr als eine Inspirationsquelle zu betrachten, die sie interpretieren und erweitern darf, anstatt sich zu verpflichten, Larsens Roman möglichst exakt nachzubilden.                  

Bilder: Copyright

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