„Tell me, where did she come from? - I shall. For it is a happy tale.“
Und in der Tat. Die Geschichte der Bella Baxter (Emma Stone) ist eine überschwänglich positive und zutiefst lebensbejahende Geschichte. Dabei beginnt alles mit der größtmöglichen Lebensverneinung, nämlich dem Selbstmord einer jungen, schwangeren Frau im viktorianischen London. Glücklicherweise wird der tote Körper jedoch von Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) wieder zum Leben erweckt und mit dem Gehirn des ungeborenen Babys bestückt. Klingt ungewöhnlich, ist für den entstellten Anatomie-Professor aber laut eigener Aussage total „obvious“. Seitdem lernt der frühkindliche Verstand von Bella Baxter täglich ca. 15 neue Wörter und macht auch ansonsten rasende Fortschritte. Der erwachsene Körper hat jedoch schon ganz andere Bedürfnisse, die Bella möglichst ausschweifend befriedigt wissen will, weswegen sie sich mit „Ladies Man“ Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) aufmacht, die Welt zu entdecken und ein großes Abenteuer zu erleben, bevor sie mit Dr. Godwins Muster-Medizinstudent Max McCandless (Ramy Youssef) verheiratet werden soll.
Wir haben es hier also mit einer feministischen Variation des Frankenstein-Mythos zu tun, bei der Doktor GODwin Schöpfer und (äußerliches) Monster zugleich ist, während sein Experiment Bella durch den Aufholprozess, den ihr Kleinkind-Verstand zu ihrem Körper macht, einen gänzlich einzigartigen Zugang zur Sexualität entwickelt. Und von diesem sehen wir einiges, denn es hat wohl sehr lange keinen großen, Star-besetzten Film mehr mit derartig viel Sex gegeben. Im Liegen, im Stehen, auf Schiffen, in Bordellen - überall wird gevögelt, oder wie Bella es nennt „furiously jumping“ betrieben.
Denn Autonomie über den eigenen Körper, die sexuelle Gleichstellung von Frauen und Männern, die Beziehung zwischen körperlichem und emotionalem Begehren - all das sind Kernthemen in einer Gesichte, die strukturell einem Bildungsroman gleicht, bei dem Bella schrittweise nicht nur die Welt entdeckt, sondern ein wissenschaftliches, ethisches und philosophisches Verständnis von ihr erlangt.
Das mag jetzt vielleicht etwas moralisierend und didaktisch klingen, was allerdings nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Denn „Poor Things“ ist ein knallbuntes, wahnwitziges Feuerwerk aus abgefahrenen Ideen, und bei aller Tiefgründigkeit praktisch ununterbrochen extrem witzig. Bella Baxters außerweltliche Fremdartigkeit provoziert natürlich allerlei bizarre Situationen, wenn sie beispielsweise genervt vom lauten Geschrei eines Säuglings ein feines Abendessen unterbricht, um zu verkünden: „"I must go punch that baby!“. Aber auch die anderen Figuren, die die eigenartige Welt von „Poor Things“ bevölkern, stehen Bella in Punkto Verschrobenheit wenig nach. Willem Dafoes God, eine ruppige, aber sehr besorgte Vaterfigur, die der legendäre Mime mit ans Herz gehender Wärme und viel Witz verkörpert, muss sich beim Essen an diverse Steampunk-Apparaturen anschließen, da er keine eigene Gallenflüssigkeit produzieren kann, was als irritierenden Nebeneffekt die würgeartige Produktion von Seifenblasen hat.
Oder Playboy Duncan Weddeburn, den Mark Ruffalo mit einer derartig süffisanten, schmierigen Egozentrik verkörpert, dass es eine wahre Freude ist. Eine inspirierte Besetzung, denn ist Ruffalo eigentlich auf intelligente, besonnene Typen und totale Bodenständigkeit abonniert, wirkt er hier geradezu entfesselt und macht aus jeder seiner wahlweise aufgegeilten oder lächerlich selbstmitleidigen Dialogzeilen ein fünfgängiges Menü mit doppeltem Dessert-Aufschlag. Im Duell der desillusionierten und dabei brüllend komischen „Man-Babys“ hat er zumindest in den Augen dieses Rezensenten sogar knapp die Nase vor Ryan Goslings Ken-Performance in „Barbie“.
Und über die Begeisterung für einen anderen Namen wird man wohl auch in keiner einzigen Kritik von „Poor Things“ herumkommen: Emma Stone. Mit welch absoluter Hingabe und Mut zur kompletten physischen und psychischen Entblößung die Schauspielerin ihre grotesk absurde Figur verkörpert und sie dabei trotzdem so uneitel, nahbar und sympathisch wirken lässt, ist so einnehmend und vor allen Dingen einzigartig, dass der mit dem Golden Globe eingesetzte Preisregen in der diesjährigen Awards Season bis zum zwangsläufigen Oscar nicht mehr abreißen wird. Ihre Bella Baxter mit ihrem extrem spezifischen Sprachduktus, einer Mischung aus Kleinkindsprech und hochgestochenen, wissenschaftlichen Begriffen, der sich den ganzen Film über sehr glaubwürdig weiterentwickelt, und ihrem jetzt schon ikonischen Kostüm-, Haar- und Makeup-Design wird auf jeden Fall in die Filmgeschichte eingehen.
Es ist nach „The Favourite“ für Emma Stone die zweite Zusammenarbeit mit dem Begründer der sogenannten „Greek Weird Wave“, Regisseur Yorgos Lanthimos. Die dritte - „Kinds of Kindness“ - ist bereits abgedreht und wird mit Spannung erwartet. Der zehnfach oscarnominierte „The Favourite“ war auch die erste Kollaboration von Lanthimos mit Drehbuchautor Tony McNamara, der mit „Poor Things“ Alasdair Grays gleichnamigen Roman von 1992 kongenial adaptierte und einen Stoff geschaffen hat, der perfekt zu Lanthimos extrem speziellem und ja, sehr „weirdem“ Stil passt, für ihn aber auch eine grandiose Weiterentwicklung bedeutet. Denn es ist wirklich bemerkenswert, wie der griechische Regie-Exzentriker, der mit faszinierenden, aber auch sehr sperrigen Arthouse-Experimenten wie „Dogtooth“ und „Alps“ zum Festival-Liebling wurde, seine Filmsprache seitdem konstant weiterentwickelte, um jetzt bei so einem „Crowd Pleaser“-Konsens-Meisterwerk wie „Poor Things“ anzukommen, ohne sich dafür jemals zu verbiegen oder die Fremd- und Einzigartigkeit seiner Vision zu opfern.
Denn trotz des mittlerweile Lanthimos-typischen, gelegentlichen Einsatzes einer extrem weitwinkligen Fish-Eye-Linse (8mm, für die Fotografie-Interessierten) und immer wieder pointiert auflockernden Zeitlupen ist der aktuelle Film audiovisuell weit entfernt von den strengen, bedrückenden Kammerspielen „Dogtooth“ oder „The Lobster.“ Weder London, Lissabon, Alexandria oder Paris entsprechen auch nur ansatzweise der Realität des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern sind bonbonartig leuchtende Kunstwelten, die unter halluzinogenen Farbrausch-Himmeln selbst (den dafür bekannten Anime-Schöpfer) Makoto Shinkai ungläubig den Kopf in den Nacken legen lassen würden.
Diese knallbunte Ästhetik mag auf den ersten Blick vielleicht mit dem typischen märchenhaften Look eines Tim Burton verwechselt werden, entpuppt sich jedoch bei genauerem Hinsehen als gänzlich eigenständige Stilistik. Denn die Stuck-Verzierungen an Zimmerdecken und Hühner mit Schweineköpfen in Godwins Privatzoo ergeben dann doch einen deutlich abseitigeren, unverbrauchteren Ansatz.
Bella wird mit ihrem analytischen Blick auf den menschlichen Körper auch mit reichlich Gewalt und Grauen konfrontiert, von den blutigen Innenansichten aufgeschnittener Leiber bis hin zu drastisch dargestellter Armut und Elend, die von Kameramann Robbie Ryan auch in teilweise schroffen Schwarz-weiß-Bildern eingefangen werden. „Poor Things“ wechselt immer wieder Bildformate und Aufnahmetechniken, um jedes der Kapitel von Bellas Abenteuer voneinander abzugrenzen und dabei doch eine stringente Welt zu erschaffen.
Und trotz dieser düsteren Untertöne und harten Wahrheiten: Am Ende ist „Poor Things“ eine tief gehende Bestandsaufnahme der Spezies Mensch, wie auch ein zutiefst menschlicher Film, der seine Zuschauenden mit einem aufbauenden und euphorischen Gefühl aus dem Kinosaal entlässt. Denn wie Madame Swiney in Bellas Bordell-Episode treffend auf den Punkt bringt: “We must experience everything, not just the good, but degradation, horror, sadness. This makes us whole. Then we can know the world. And when we know the world… The world is ours.”
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