Im Jahr 1934 hat er den Ruf des „weltbesten Detektivs“ - und sieht das auch selbst so. Hercule Poirot (Kenneth Branagh) hat gerade erst in Jerusalem einen Streit zwischen den Religionen geschlichtet, indem er den wahren Schuldigen für einen Diebstahl ausmachte. Sein nächster Einsatz führt ihn über Istanbul direkt in den ebenfalls legendären Orient-Express, der Poirot eigentlich nach London bringen soll. Doch als der Zug inmitten eines heftigen Schneesturms zum Stehen kommt, entwickelt sich daraus prompt ein neuer Fall für den detailverliebten Belgier. Denn der zwielichtige Geschäftsmann Edward Ratchett (Johnny Depp), der Poirot erst wenige Stunden zuvor – vergeblich – als Beschützer engagieren wollte, wird ermordet in seinem Abteil aufgefunden, malträtiert mit einem Dutzend Messerstichen. Verdächtige gibt es viele, denn sowohl die Witwe Hubbard (Michelle Pfeiffer), der deutsche Professor Hartmann (Willem Dafoe), die adlige Prinzessin Dragomir (Judi Dench), die Gouvernante Mady (Daisy "Star Wars" Ridley) und eine Handvoll weiterer Mitreisender haben etwas gemeinsam: Sie alle scheinen in einem besonderen Verhältnis zum Opfer zu stehen und ein Motiv für die Tat zu haben. Selbst die Bediensteten des Ermordeten sind keinesfalls unverdächtig, und so steht Meisterdetektiv Hercule Poirot vor seinem vielleicht kniffligsten Fall.
Oh ja, so ein Big Budget-Film vor prächtiger Kulisse, mit edlen Kostümen und einem halben Dutzend Stars ist schon was Feines – und in diesem Fall auch etwas ziemlich Mutiges, denn diese Art Ensemblefilme voll prominenter Namen sind im Prinzip genauso ein Relikt der 70er Jahre (dort gerne auch für Kriegs- und Katastrophenfilme zusammengestellt) wie der Stoff, den man sich hier vorgenommen hat. Obwohl größtenteils schon deutlich früher entstanden, erreichten die Romane der sehr britischen Krimiautorin Agatha Christie ihre größte Popularität in den 60er bis 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, nicht zuletzt dank zahlreicher Verfilmungen. Neben der burschikosen Hobby-Ermittlerin im Rentenalter namens Miss Marple ist der stets für einen Franzosen gehaltene belgische Detektiv Hercule Poirot ihre populärste Schöpfung, in den Adaptionen am bekanntesten in der Interpretation durch Peter Ustinov in „Der Tod auf dem Nil“ und „Das Böse unter der Sonne“. Albert Finney dagegen spielte Poirot nur ein einziges Mal und gilt bei einigen als einziger kleiner Schwachpunkt in der ansonsten sehr beliebten und damals für immerhin sechs Oscars nominierten Version von „Mord im Orient-Express“ aus dem Jahr 1974.
Während die vertrackten Mitrate-Krimis nach Art der Agatha Christie aber vor einigen Jahrzehnten zu den Höhepunkten eines sonntäglichen Fernsehtages zählten, muss man schon die Frage stellen, wer dafür heute wohl noch ins Kino gehen wird. Denn so charmant dieses Subgenre einerseits anmutet, so hoffnungslos betulich und altmodisch ist es auch. Was für den öffentlich-rechtlich sozialisierten TV-Zuschauer von damals ein aufregender Blick in die Welt der Schönen & Reichen war, wirkt heute oft genauso albern wie realitätsfern. Wie also einen Mord im Orient-Express im Jahr 2017 inszenieren?
Nun, diese Frage beantwortet der nach längerer Zeit mal wieder in Personalunion als Regisseur & Hauptdarsteller tätige Kenneth Branagh mit einem entschiedenen "Sowohl als auch", indem er zwar einerseits ganz in nostalgischer Ausstattung schwelgt, dabei aber nicht darauf verzichtet, vor allem im Bezug auf die Charaktere und ihre persönlichen Befindlichkeiten einen neuen, deutlich ernsthafteren Ansatz zu wählen.
Doch zunächst müssen eben diese Charaktere erst einmal vorgestellt und anschließend die Figur von Johnny Depp um die Ecke gebracht werden. Dessen Leinwandzeit ist daher naturgemäß begrenzt, doch ist seine zurückgenommene Darstellung des sein Schicksal ahnenden Mr. Ratchett nichtsdestotrotz geradezu eine Wohltat nach all den überdrehten schrägen Gestalten, die Mr. Depp in den letzten Jahren quasi auf Autopilot spielte – es geht also erfreulicherweise doch noch anders. Die folgenden Verhöre des runden Dutzends Verdächtiger bieten dann jedem Darsteller zunächst genau eine größere Szene um zu glänzen, was vor allem von Willem Dafoe als vermeintlich rassistischem deutschen Arzt und von Josh Gad („Die Schöne und das Biest“) in der Rolle des unglücklichen Sekretärs des Ermordeten genutzt wird. Aber irgendeine Blöße in Form einer schwachen Leistung gibt sich hier aus dem wahrlich exquisiten Cast erwartungsgemäß auch sonst niemand.
Formal setzt Branagh neue Akzente, indem er auch Schauplätze außerhalb des durch den Schneesturm vorübergehend lahmgelegten Zuges einsetzt, sei es ein kleines Picknick neben den Bahngleisen oder die Verlegung des abschließenden großen gemeinsamen Verhörs in einen Tunnel, bei dem die versammelte Gesellschaft als Abbild von Leonardo Da Vincis berühmten Gemälde „Das Abendmahl“ positioniert wird. Was zwar keinen tieferen Sinn ergibt, aber allemal hübsch aussieht. Am auffälligsten ist jedoch die Kameraarbeit, die mit diversen kleinen Spielereien wie von oben oder von außen durch die Fenster gefilmten Szenen angereichert wird.
Das, was am meisten Eindruck hinterlässt, ist jedoch die Seriosität, mit der das moralische Dilemma behandelt wird, indem sich Hercule Poirot schließlich befindet. Hatte der in einem der eigentlichen Handlung vorangestellten Prolog sich noch überzeugt davon geäußert, dass es kein Grau, sondern immer nur Schwarz und Weiß gebe, demnach also nur „schuldig oder nicht schuldig“, so kommt ihm diese Gewissheit im Verlauf des „Orient“-Falles zunehmend abhanden. So einfach ist die Schuldfrage nämlich diesmal nicht zu beantworten, und zu zeigen wie ein sonst stets kontrollierter und überlegener Geist wie der von Poirot an dieser Erkenntnis fast innerlich zerbricht, ist das ganz große Aha-Erlebnis dieser Neuinszenierung und verleiht der (hier zudem auch mit einer Art „Backstory“ versehenen) Figur des Meisterdetektivs eine zuvor noch nicht gesehene Tiefe.
Wenn am Ende also der Fall offiziell gelöst ist, so gibt es trotzdem nicht wirklich einen Gewinner, der Abschied im Schnee ist bittersüß und macht aus dem vermeintlich angestaubten Rätselkrimi ein ziemlich zeitloses Drama. Das ist mehr als man erwarten konnte.
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