Das eine vorweg: Wieder einmal lässt ein Übersetzer beim geplanten deutschen Titel das nötige Fingerspitzengefühl vermissen. Nicht einmal das unnötig banalisierende "total" stört hier so erheblich, vielmehr jedoch das nicht aussagekräftige, zudem hier regelrecht falsche "verrückt" (ein Umstand, der auch der Regisseurin ein wenig unglücklich erscheint). Schlägt man im Wörterbuch nach, so findet man, daß "delirious" (ausgehend vom Delirium) eine Art Krankheitszustand meint, eine temporäre seelische Verfassung gewalttätiger Aufregung und Emotion oder eine Störung des Bewußtseins, sich auflösend in Gewaltausbrüchen oder Halluzinationen. Nein, man ist nicht einfach nur verrückt und total schon gar nicht. Krank. Vor Liebe. Darum geht es hier.
"All I want is a kiss, all I want is a fuck" singen die Violent Femmes ganz zu Beginn von "Lost and Delirious", und von beidem bekommt Paulie (Piper Perabo), selbst beizeiten eine violent young femme, am Anfang mehr als genug. Und zwar von ihrer Zimmergenossin Torrie (Jessica Paré). Die beiden Mädchen zerfließen in der ersten großen, in Internatszimmern nicht abwegigen gleichgeschlechtlichen Liebe. Beobachtet wird dies von der eigentlichen Protagonistin des Films, Mary Bradford (Micha Barton), die "Neue" im Internat, die von allen nur "Mouse" genannt werden will, weil vor allem sie sich so sieht und fühlt. Durch ihre großen Augen beobachten wir. Zuerst ist alles in Ordnung: Paulie und Torrie nehmen den Neuankömmling herzlich auf, und Mary findet im freundlichen Internatsgärtner (Graham Greene) einen väterlichen Mentor. Doch dann folgt der Sturz aus dem Himmel, der Sündenfall, das Zerbrechen der Idylle. Torries kleine Schwester erwischt diese im Bett mit Paulie. Aus Angst vor der Ächtung durch ihre erzkonservativen Eltern bricht Torrie die Beziehung ab. Einfach so. Es muss sein. Das war alles ein Missverständnis. Eine Spielerei. Nicht mehr. Paulie ist zerstört. Eine seelische Apokalypse. Doch sie gibt nicht auf, will um ihre große Liebe kämpfen, mit allen Mitteln. Muß ohnmächtig sehen, wie ihre Versuche die Geliebte immer weiter in die Ferne treiben, schließlich in die Arme eines Jungen. Die Gefühle werden immer größer, überlebensgroß, die Gefühlsausbrüche immer unkontrollierter und wilder, die Verzweiflung immer greifbarer. Hilflos muß Mary mit ansehen, wie Paulie die Kontrolle verliert, über eine Liebe, die nichts als verbrannte Erde zurücklassen kann und wird.
Spötter behaupten, das Auftauchen von Shakespeare in Teenagerfilmen wäre die billigste und platteste Metapher für das pubertäre Gefühlschaos ihrer Protagonisten. Einzig: Dies ist kein herkömmlicher Teenagerfilm und es gibt in der Tat wenig, das derartige Gefühlsexzesse besser widerspiegelt als die Urgewalt Shakespearescher Worte. Ähnlich verhält es sich mit dem unbestreitbar vorhandenen Pathos des Films: Man kann es diesem Film sicherlich vorwerfen. Tut man dies jedoch, hieße dies eine Missachtung dessen, was der Film versucht und was ihm auch vortrefflich gelingt. Wer das Pathos hier nur schwer schlucken mag, der möge sich an seine eigene erste große Liebe zurückerinnern, wenn er kann: Niemals waren die Gefühle größer, die Herzlasten schwerer als zu dieser Zeit. Dies vermittelt der Film wie kaum ein anderer und daher seien ihm jede etwas zu melodramatische Szene und die Shakespearebezüge mehr als verziehen. Ebenso wie die doch recht klischeehafte Behandlung der Erwachsenenfiguren (klare Einteilung in gut, böse, hilfreich, etc.), die sich ebenfalls in das Bild einfügt. Für einen Jugendlichen sind die Erwachsenen in jedem Fall Platzhalter ohne Ambivalenzen, wollen und können nicht verstehen, bleiben immer Außenstehende gegenüber der eigenen Innenwelt.
Derlei Gemäkel ist sowieso Makulatur ob der reinen Ausdruckskraft und Energie von "Lost and Delirious". Trotz der marginalen Schwächen (die man im Grunde auch als Stärken werten kann und sollte) ist der Film ein kleines Meisterwerk, eine kunstvolle Konstruktion von Adoleszenz im Strudel der Gefühle. Zwei Stunden Poetry in Motion. Man möge sich fallen lassen in die suggestive und kraftvolle Bildsprache des Films. Kongenial dabei: Der höchst geschmackvolle Einsatz von Musik. Nur vier Songs tauchen auf. Die bereits erwähnten Violent Femmes, dazu Me'shell NdegéOcello, Ani DiFranco und die Cowboy Junkies. Spätestens hier ist ein Entkommen unmöglich, wenn Margo Timmins mit ätherischer Stimme verkündet: "While the world clamours at our door / we will dance and not let them in". Und dann, in furchterregender Symmetrie zu Paulies eigenem Mantra "Rage More!": "And in a voice that's sloppy with grin / you say‚ let the world spin'" - Hölle, wo ist dein Stachel?
All dies wäre freilich so wert- wie sinnlos, könnte es nicht auch auf rein personeller Basis überzeugen. Piper Perabo mag ja in "Coyote Ugly" das hirnlose Püppchen gewesen sein (wenngleich dort mit dem breitesten Lächeln der letzten Jahre die definitive Julia Roberts-Nachfolgerin), aber ihre Leistung hier ist intensiv und mitreißend. Beeindruckend, wie überzeugend Perabo in einen 16-jährigen Charakter schlüpft und diesen völlig überzeugend zum Leben erweckt. Und gleich doppelt toll, daß Miss Perabo rechtzeitig die Kurve kriegt: Hätte sie nämlich der Schaufensterpuppenperformance aus "Coyote Ugly" eine weitere zugefügt, hätte man sie wohl mit Recht abschreiben können und dürfen. So aber ist das Potenzial eindeutig zu erkennen und wir dürfen noch einiges erwarten. Bestenfalls, jedenfalls.
Bliebe noch zu erwähnen, daß es sich bei "Lost and Delirious" keinesfalls um ein schwules Betroffenheitsdrama handelt, sondern um einen Liebesfilm. Im wahrsten und besten Sinne. Überhaupt gefällt der ambivalente, nicht wertende Unterton: Es wird nicht geklärt, ob Torrie wirklich lesbische Neigungen hat, die sie verstecken will, oder einfach noch nicht die Jungen für sich entdeckt hat und dies letztlich unausweichlich noch kommt. Aber es ist völlig egal. Als Torrie Paulie erklärt "sie sei nicht so", sie bekommt das Wort nicht über die Lippen, da rastet Paulie aus. Es gehe nicht um Liebe zwischen Frauen sondern nur um Liebe zwischen Paulie und Torrie. Und: "Love is. It just is." Wie wahr.
"Lost and Delirious" ist kein Meilenstein, aber eine Herzensangelegenheit; keine Quadratur des Kreises sondern eine kunstvolle, wundervolle Modellierung desselben. Größer und schöner, dabei jedoch ehrlich, ist Liebe im Kino lange nicht gewesen, viel zu lange schon nicht mehr. Und der sehnsuchtsvolle Blick zurück ist so gewollt wie gerechtfertigt. Dies ist ein Film für alle diejenigen, die schon einmal zu heftig geliebt haben und auch für alle, die wünschten, sie hätten es getan. Damals, als die Liebe noch neu wahr, das Erwachsensein noch so weit weg und alles so unglaublich schnell und verrückt. Das Entflammen in Gefühlen, leinwandgroß und breitbandig, schön und grausam: Smells like teen spirit.
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