„Ich bin der Fahrer. Ich fahre.“ Soviel verrät uns der Fahrer (Ryan Gosling) über sich und im Rest der folgenden anderthalb Stunden werden wir nicht viel anderes über ihn erfahren, zumindest nicht von ihm selbst, auch nicht von seiner Vaterfigur Shannon (Bryan Cranston aus „Breaking Bad“). Er arbeitet tagsüber als Stuntman und Mechaniker, nachts ist er der Fluchtfahrer für Gangster aller Art. Ein absoluter Profi. Bis ein zufälliges Treffen mit der Nachbarin Irene (Carey Mulligan) das sorgsame Leben des Fahrers durcheinanderbringt. Und zwar nicht nur in emotionaler Hinsicht, denn alsbald wird er in die Machenschaften der Gangster Bernie (Albert Brooks) und Nino (Ron Pearlman) verstrickt. Mit blutigen Folgen...
Die Vorbilder für diesen so einsilbigen und mysteriösen Fahrer sind laut Regisseur Refn der Mann ohne Namen in Sergio Leones Westerntrilogie mit Clint Eastwood und Alain Delon als eiskalter Engel im Film gleichen Namens. Ihm geht es hier um die Ikonographie des schweigenden, existentiellen Antihelden, und er hat genau verstanden, wie man diesen in Szene setzt. Aber die Ikonographie geht tiefer – ansonsten hätten wir nur einen coolen Schweiger in bescheuerter Jacke, der viel fährt und gelegentlich Leute bedroht und/oder ermordet.
Der Fahrer sieht sich selbst als ein Actionheld wie die Helden aus Filmen, die er gesehen hat. Anders als die Protagonisten in etwa einem Tarantino-Film geht es ihm nicht darum, Vorlieben zu verbalisieren, nein, er versteht sich als Verkörperung dieser Leinwand-Actionhelden. Wenn seine Actionheld-Persona mit dem richtigen Leben kollidiert, sehen wir die Risse in seinem Weltbild. Er kann ganz cool Streifenwagen abschütteln und Gangster bedrohen, aber mit anderen Menschen wirklich kommunizieren und funktionieren – das kann der Fahrer nicht. Ein wahnsinnig eingängiger Synthiepopsong von College feat. Electric Youth singt uns den Traum des Fahrers vor: „You have proved to be a real human being...and a real hero“. Am Ende des Tages kann er vielleicht nur eines von beiden sein.
Weil wir den Fahrer so sehen, wie er selbst sich sieht, prallen auch Vorwürfe der oberflächlichen Darstellung ab, weil sie verkennen, was der Film zeigt: Die selbstgewählte Oberfläche seines Helden, und was passiert, wenn er sie für Emotionen durchbricht. Dementsprechend kann der Fahrer nicht zu genau analysiert werden, schon gar nicht von sich selbst, denn das würde sein Aus bedeuten. Allerdings hat der Fahrer etwas mit den meisten Protagonisten von Refns Filmen gemeinsam – auch wenn Refn hier zum ersten Mal nicht für das Drehbuch verantwortlich ist: Wie seine Drogendealer in seiner „Pusher“-Reihe sieht sich der Fahrer mit Situationen konfrontiert, in denen seine Optionen schlagartig immer weniger werden. Wie „Bronson“ ist der Fahrer ein Meister in der Projektion eines Selbstbildes, an dem er gnadenlos festhält.
Drehbuchautor Hossein Amini spielt in seiner minimalistischen Darstellung der Figuren nicht nur mit Stereotypen, er kommentiert, was passiert, wenn Menschen als ein Stereotyp leben wollen. Der Fahrer ist da das beste und am deutlichsten gezeigte Beispiel – aber dies trifft auch auf jemanden wie Nino zu, den jüdischen Kleingangster, der so gerne ein gemachter Mann in der italienischen Mafia wäre. Oder sein Partner Bernie, der die Zeiten, in denen er sich selber noch die Hände schmutzen machen musste, vorbei glaubt – und von der Realität eines Besseren belehrt wird. Die Einzige, die nur sie selbst ist und fast zwangsläufig von den Ereignissen überrollt wird, ist Irene.
Zu der Idee von Selbstbild, Selbstdarstellung und der Essenz der Oberfläche passt auch der Running Gag des Films, in dem der Fahrer den ganzen Film über eine eigentlich ziemlich schreckliche Satinjacke mit einem Skorpion hinten drauf trägt, die im Laufe des Films immer blutverschmierter wird, ohne dass es ihn (oder jemand anderen) stört. Niemand scheint das Blut zu sehen. Realistisch? Nein. Magischer Realismus? Schon näher dran. Seine Skorpionjacke ist für den Fahrer das, was dem Superhelden sein Kostüm. Würde er die Skorpionjacke ausziehen, so könnte man denken, würde er all seine Superkräfte verlieren. Alles hier ist Oberfläche, aber jede Oberfläche hier hat eine Bedeutung. Stolz trägt der Fahrer die Spuren seines blutigen Feldzugs auf seiner Skorpionjacke, später erzählt er das Gleichnis vom Skorpion und dem Frosch.
Seine Vorliebe für und guten Geschmack in Synthmusik hat Refn ja schon in „Bronson“ gezeigt, ganz so als hätten für ihn die 80er nie geendet. Während diese Musik aber in jenem Film manchmal ein wenig deplatziert wirkte, schafft Refn hier mit dem Score von Cliff Martinez und ausgesuchten Stücken wie dem erwähnten „A Real Hero“ die perfekte Symbiose aus Bild und Musik. Ganze Strecken sind nur von Musik untermalt, eine schöner und ausdrucksstärker als die andere. Refn hat sich ja schon mit seinem letzten Film als Bilderstürmer erwiesen, aber so magisch wie hier hat er noch nie gearbeitet – und wurde für seine Arbeit hier völlig zurecht als bester Regisseur in Cannes ausgezeichnet. Eine großartige Sequenz folgt hier auf die nächste, in der sich Musik und Bild vermählen. Es klingt wie ein Klischee, weil man dies so daher sagt, aber diverse Szenen in „Drive“ sind unvergesslich, eingebrannt in die Netzhaut und Gehörgänge: Ein springender Stein auf einem Flussbett. Ein Mann mit groteskem Gesicht hinter einer ausgeleuchteten Eingangstür. Zwei Männer am Strand und ihre langen Schatten. Einer von ihnen, der ein erfrischendes Bad nimmt.
Wer einen schöner fotografierten Film als „Drive“ findet, darf ihn behalten – ich bleibe beim Fahrer und seinen Eskapaden. Dabei versinkt der Film nicht einfach nur in Schönheit, so wie es etwa ein Film wie Ridley Scotts „Die Duellisten“ tut – dies ist ein vitaler, lebendiger Film mit elektronischem Puls und neonfarbenem Herzen. „Drive“ sieht man nicht einfach nur, man spürt ihn. Oder eben nicht: Dieser Film ist zum Lieben oder Hassen – ein „ganz nett“ wird nach Ansicht kaum jemandem über die Lippen kommen. Für die Gegenseite kann und möchte ich nicht sprechen, aber ich liebe „Drive“ von ganzem Herzen, mit Haut und Haaren, Öl- und Blutflecken.
Der Schock für Freunde von, sagen wir mal, der „Fast and Furious“-Reihe könnte dagegen nicht größer sein, wären sie versehentlich in „The Tree Of Life“ gelandet. Actionszenen machen vielleicht fünf bis zehn Prozent dieses Films aus, werden rar gestreut und sind weit entfernt vom Krawumm und Krawall, den man so erwarten könnte. Wir sind hier schließlich nicht bei Michael Bay. Wie beim Rest des Films geht es auch in diesen Szenen um Präzision, es herrscht strenge Stringenz: Die Actionszenen haben alles was sie brauchen, nicht mehr, nicht weniger. Sparsamkeit, Präzision und Timing – diese drei Begriffe beschreiben „Drive“. Als bestes Beispiel genügen da schon die Anfangsminuten des Films, in denen Refn in einer fantastisch inszenierten Sequenz zeigt, mit wieviel Kaltblütigkeit und Brillanz der Fahrer seinen Job als Fluchtfahrer macht und demnach als Bester der Branche gilt.
Das Tempo ist – anders als der Titel vermuten lässt – bedächtig, teilweise langsam. Dem klassischen Fan des Actionfilms wird „Drive“ dementsprechend nicht zusagen. Trotzdem wird es zu keinem Moment langweilig. Ganz im Gegenteil: Refn schafft es aus der Langsam/schnell-Dynamik enormen Nutzen zu ziehen: Der Raubüberfall auf ein Pfandleihgeschäft, in den der Fahrer involviert wird, ist ein Musterbeispiel an Suspense und steigender und fallender Spannung. Gleiches gilt für die pointiert eingesetzten Gewaltspitzen. Bestes Beispiel ist die Fahrstuhlszene, die von Zeitlupentempo blitzartig die Gänge wechselt und von höchster Romantik in Sekundenschnelle in eine andere Tonart umschlägt.
Auch die Ikonographie von Gewalt versteht Refn, er hat sie bereits ausgiebig in „Bronson“ und „Walhalla Rising“ genutzt, und er führt sie hier zurück von der nonchalanten Art und Weise, in der im Mainstreamkino Gewalt en passant genutzt wird, wenn in Showdowns ganze Städte in Schutt und Asche gelegt werden. Es gibt nicht viele Gewaltszenen in „Drive“, aber die die zu sehen sind, vergisst man nicht. Mit ihnen gibt Refn der Kinogewalt ihre Kraft zurück, weil hier jeder Gewaltakt und jeder Blutspritzer Wirkung und Bedeutung hat. Hier werden Köpfe weg geschossen oder eingetreten und Menschen mit Gabeln erstochen, und jeder Moment ist wie ein Schlag in die Magengrube. Einige dieser Gewaltakte werden vom Fahrer selbst begangen und es ist eine der interessanten Rochaden des Films, dass er den Fahrer als sympathische Figur aufgebaut hat (und Gosling zudem so ein Milchgesicht hat), dass es als eine Überraschung daher kommt, wenn der Fahrer zum ersten Mal Gewalt anwendet, und dann etwas weniger überraschend, aber effektiv, wenn seine Figur letztlich als Soziopath charakterisiert werden muss, der andere Leute verstümmelt, als wäre es das Normalste der Welt. Darin gleicht er seinen Gegenspielern, hier wird auch beim Sterben und Sterben lassen geklotzt und nicht gekleckert.
Da sich alles um den Fahrer dreht, wird die Hauptlast des Films von Ryan Gosling getragen, der sich in den letzten Jahren dank Filmen wie "Half Nelson"und "Blue Valentine" zu einem der interessantesten Darsteller der jüngeren Generation entwickelt hat. Mittlerweile wartet Gosling nicht einfach nur auf die richtigen Rollen, er beschafft sie sich. Er war die wirkliche treibende Kraft hinter dem Projekt, schlug Refn für die Regie vor, fuhr seinen Regisseur durch ein L.A., das dieser auch nur aus Filmen kannte, um ihm die vielen coolen Stellen zu zeigen, an denen der Fahrer auftauchen kann. Gosling erinnert in all seiner Coolness fast an den Urvater des Kino-Coolseins, Steve McQueen, und schafft es dennoch, die Risse in dem gewählten Image des Fahrers aufzuzeigen, wenn dieser sich an Zwischenmenschlichem versucht. Die anderen Darsteller haben weniger zu tun, gerade Fans von Cristina Hendricks ("Mad Men") werden hier enttäuscht sein, denn ihre Heldin ist nur für etwa zehn Minuten auf der Leinwand und spricht etwa drei Sätze. Auch Carey Mulligan kann als Irene zwangsläufig nicht alles zeigen, was sie so drauf hat, leistet aber eben so wertvolle Unterstützung wie die Herren Cranston, Pearlman und Brooks.
„Drive” ist nicht nur in der Namensverweigerung seines Protagonisten der legitime Nachfolger von wortkargen Dramen wie Walter Hills „Driver“, er erinnert in Ästhetik und in den Figuren auch ein wenig an Michael Manns „Der Einzelgänger“. Aber er ist auch ganz und gar sein eigener Film, ein Film, den man so noch nicht gesehen hat und wohl auch nicht wieder sehen wird. „Drive“ ist die Kunstkinofantasie eines Pulp-Films, eine Zen-Meditation über das, was uns am Genrekino interessiert: die coolen Typen, die schnellen Wagen, die unbarmherzige Gewalt, alles gefiltert durch die Linse der Dekonstruktion und Rekonstruktion, vorangetragen auf den Wellen des ständig auf- und abschwellenden Synthiescores. Ein Bildersturm! Ein Cineastentraum! Ein Meisterwerk!
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