Der Mensch, sein Leben und Sterben, der Sinn eben jenes Lebens, des Menschens Beziehung zu Gott und die Geschichte des Universums - darunter macht es Terrence Malick in seinem mit Spannung erwarteten neuen Film nicht. Natürlich ist jeder Malick-Film ein Ereignis, einfach weil niemand solche Filme macht wie er und weil er immer seine langen Pausen einlegt (wobei er mit "nur" fünf Jahren zwischen "The New World" und "The Tree of Life" geradezu hurtig unterwegs war, besonders da der Film seit drei Jahren abgedreht ist, von Malick und seinem Team aber am Schneidetisch wie immer ewig lange bearbeitet wurde und zudem noch in der Postproduktion auf sein CGI wartete). Besonders gespannt war man auf sein neues Projekt aber, weil zum einen mit Brad Pitt ein absoluter Superstar dabei ist, der dem Film mehr Aufmerksamkeit verschaffen wird als für schwieriges Kunstkino sonst üblich, zum anderen weil Grundideen des Films Malick offenbar schon vor über dreißig Jahren im Kopf herumschwebten, als er einen Nachfolger zu "In der Glut des Südens" plante, bevor er dann zwanzig Jahre von der Bildfläche verschwand. Es sollte wohl sein ambitioniertestes Werk werden, ein Film, der zumindest in Teilen die Erschaffung und Evolution der Erde und seiner Lebewesen dokumentiert.
Und diesen Teil hat Malick eingehalten. Noch wenige Wochen vor der Weltpremiere in Cannes hieß es, der Film könne eventuell nicht zum angekündigten Zeitpunkt laufen, da die Animation der Dinosaurier zu lange dauere und eventuell nicht fertig würde. Moment mal, sagte sich der Filmfreund da, die was? Animierte Dinosaurier? In einem Film, der nach seinem kongenialen Trailer aussah, als ob er Oscar-reif und in magischen Bildern das Schicksal einer Familie zeigen würde?
Visionär ist ja so ein Schlüsselwort, das immer gerne falsch verwendet wird, besonders von PR-Strategen. Etwa einen gewissen Zack Snyder als "visionären Regisseur" zu bezeichnen ist schon sehr mutig, wenn man bedenkt, dass Snyder die Visionen anderer visualisiert und dabei oft eins zu eins Bildkompositionen der Originalmedien übernimmt. Terrence Malick ist dagegen ein Visionär und "The Tree of Life" ist ein visionärer Film. Soviel ist unbestritten. So einen Film wie "The Tree of Life" gab es noch nicht und wird es wohl auch nicht mehr geben. Ob aber jetzt ein großes Publikum Malicks Vision folgen will oder überhaupt kann, ist noch eine ganz andere Frage (die Jury in Cannes konnte offenbar und verlieh Malick die Goldene Palme).
Denn dies ist Malicks persönlichster und privatester Film, eine für Außenstehende kaum greifbare Mischung aus mystischer Kindheitserinnerung und kindlichem Mystizismus. Viele der Szenen einer Kindheit in Waco, Texas in den 50er Jahren scheinen direkt aus der Erinnerung ihres Regisseurs zu stammen, wohl auch deshalb sind ihm Momentaufnahmen wichtiger als dramaturgische Bedürfnisse. Wie sich überhaupt "The Tree of Life" den gültigen Regeln eines Spielfilms zur Unterhaltung entzieht. Statt erzählerisch-dramaturgischen Elementen stehen hier Bild- und Tonkompositionen im Vordergrund, deren Verknüpfung oftmals rein intuitiv anstatt logisch ist. Bilder und ganze Sequenzen müssen so aussehen und gehören an ihren Platz im Filmablauf, weil Malick dies so entschieden hat, nicht weil es Figurenkonstellation oder Geschichte vorgeben.
Malick hat sich im Laufe seiner Filmographie immer mehr vom typisch Linearen des erzählenden Films entfernt und sich immer mehr dem Elliptischen verschrieben, dass nur noch Momente sammelt und zusammenträgt. Höhe- bzw. je nach Sichtweise Tiefpunkt dieser Entwicklung ist nun "The Tree of Life", in dem es keine Geschichte an sich mehr gibt. Nicht wenigen wird aufgefallen sein, dass eine Inhaltsangabe in diesem Text bisher fehlt. Sie wird auch weiterhin fehlen, denn diesen Film auf seine rudimentären Plotelemente zu reduzieren (etwa: drei Jungen wachsen in einer Kleinstadt auf, lernen Dinge über Leben und Tod) wäre, als würde man das Gesamtwerk der Beatles als "eingängige Popmusik" resümieren.
"The Tree of Life" ist ein Film, der es jedem Kommentator und Rezensenten schwer macht, denn es gibt so viel zu besprechen und so wenige Möglichkeiten, dies mit den üblichen Mitteln der Filmanalyse zu tun. Story? Nebensache, sofern überhaupt vorhanden. Figuren? Gewollt diffus gezeichnet, sofern als solche vorhanden. Filmaufbau? Ungewöhnlich, sofern vorhanden. Also erst mal Stichworte: Meditation, ein Gedicht in Bild- und Tonform, eine Symphonie. Brian Wilson hat sein damals unterbrochenes und erst spät fertig gestelltes Werk "Smile" als "eine Teenager-Symphonie an Gott" bezeichnet, "The Tree Of Life" ist Malicks Erwachsenen-Symphonie an Gott.
Das kann man gar wörtlich nehmen. Wie schon in "Der schmale Grat" ist auch hier die Tonspur ein Kunstwerk an sich. Musik spielt dabei die wichtigste Rolle (jede Menge klassische Musik), Dialoge so gut wie gar keine. Seine Charaktere sprechen nicht miteinander, aber sie adressieren Gott und andere Instanzen permanent per Voice Over. Die Mutter scheint mit Gott zu sprechen, Jack mit seinem toten Bruder und seinen Eltern. Nur Brad Pitts Charakter Mr. O'Brien bekommt kein durch Voice Over präsentiertes Eigenleben, seinen Charakter - das Enigma unter den dargestellten Menschen - muss der Zuschauer zusammen mit seinen Kindern und seiner Frau aus seinen Taten und seinem Dialog konstruieren.
Wie dem Publikum überhaupt einiges an Konstruktionsarbeit bevorsteht: In der Anfangsviertelstunde zeigen uns kurze Schnipsel einen Schlüsselmoment im Leben der Familie O'Brien in der Vergangenheit und weitere Schnipsel der Jetztzeit einen offenbar in seinem Leben unglücklichen Jack O'Brien (in der leicht derangiert aussehenden Form von Sean Penn). Und während man als Zuschauer noch versucht, diese Dinge zusammenzubekommen, kommt schon die Sequenz, die entscheiden wird, ob man bei "The Tree of Life" dabei bleibt oder nicht.
Ohne Vorwarnung springt Malick hier in eine von Musik unterlegte, zwanzig Minuten lange Sequenz, die die Entstehung und Evolution der Erde darstellt und dabei nachdrücklich an die Sternenfahrt am Ende von "2001 - Odyssee im Weltraum" erinnert. Jawoll, dies ist die Sequenz inklusive der vorher angesprochenen Saurier, dazu Nebelverdichtung, Urknall und Ursuppe, Vulkanausbrüche, Zellteilung und Evolution. Wer während und nach dieser Sequenz nicht erst mal verdutzt ist, der muss wohl zu Malicks engem Freundes- oder Familienkreis gehören oder in "Being John Malkovich"-Manier in ihn geschlüpft sein.
Lange hat man keinen so schizophrenen Film wie "The Tree of Life" gesehen, in der zwei auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Dinge zusammen gebracht werden. Genau genommen hat man noch nie einen Film wie "The Tree of Life" gesehen. Und das betrifft nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form: Malick arbeitet gerade zu Beginn des Films mit ungewöhnlichen, unmöglichen Kameraperspektiven, von denen es einige so im Kino noch nicht gegeben hat. Zusammen mit einer Kamera, die nicht aufhören will, sich zu bewegen (dies wird sie den ganzen Film über nicht, allerdings nicht im Sinne der berüchtigten Wackelästhetik) und einem Schnitt, der mit seinen Jump Cuts das Elliptische, Auslassende des Films noch betont.
Wer also die visuell waghalsigen ersten zwanzig Minuten und dann die nächsten zwanzig Minuten der wie aus einem anderen Film auf die Leinwand herüber gewanderten Schöpfungssequenz überstanden hat, der ist für den Rest von "The Tree of Life" gewappnet, der andere Teil des Publikums ist dann sowieso schon auf dem Weg zur Tür. Etwas sollte spätestens jetzt ganz klar sein, aber wir formulieren es gerne aus: Dieser Film ist pures Experimentalkino, mit all den Zuschreibungen, positiv wie negativ, die dieser Begriff auslöst. Ein Mainstream-Publikum wird es mit diesem Film sehr schwer haben, wovon der Rezensent sich aus erster Hand überzeugen konnte: Als zahlender Zuschauer inmitten eines vollen Kinosaals zahlender Zuschauer notierte er mehr als zwei Dutzend Besucher, die den Film an verschiedenen Stellen (besonders aber während der Schöpfungssequenz) vorzeitig verließen, und als der Abspann anfing, brandete Applaus auf - nicht weil das Publikum den Film so liebte, sondern weil es höhnisch anmerken wollte, wie schwierig es war, bis zum Ende durchzuhalten.
Ein harscher Empfang für diesen zutiefst faszinierenden, aber nicht immer funktionierenden Film. Zweifellos ist dieser Film prätentiös ohne Ende, natürlich übernimmt er sich mit seinen Ambitionen. Aber wie schön ist es doch, dass er solche Ambitionen hat, dass er sich überhaupt verheddern und verheben kann. Allerdings sollte jeder vorher wissen, worauf er sich einlässt. Wer also Brad Pitt staunend vor einem süßen Babyfuß auf dem Filmplakat sieht und sich denkt "Ah, sowas wie ‚Benjamin Button'", sollte vor der Kinokasse schnell kehrt machen. Von dem Wohlfühlkino jenes Films ist man hier weit, weit entfernt. Dies hier ist eher "Koyaanisqatsi".
Terrence Malicks Filme sind voll von Naturaufnahmen, aber die Natur ist nicht wirklich das Thema seiner Filme, sie dient ihm, sein Thema zu illustrieren. Sein konstantes Thema ist der menschliche Verlust der Unschuld, der ständig neue Sündenfall. Die Natur, die er so oft und beeindruckend abfilmt, ist unser Garten Eden, aus dem wir immer und immer wieder verbannt werden. Die Entfremdung von der Natur ist Malick immer auch eine Entfremdung vom eigentlichen Selbst, der menschlichen Seele.
Nirgendwo wird dieses Thema so deutlich wie hier, wo er diesem sogar eine These mitgibt. Es gibt, so wird in "The Tree of Life" gesagt, zwei Wege durchs Leben zu gehen: den der Natur und den der Anmut. Der Zuschauer selbst muss für sich entscheiden, wer diese Wege personifiziert. Dass die Mutter der Familie die Anmut personifizieren soll ist eindeutig, bei Vater O'Brien wird es schon schwieriger. Ist seine brutale, auch darwinistisch angelegte Figur Ausdruck der Natur oder nicht eher eine Pervertierung derselben? Schließlich ist Mr. O'Brien jemand, der sich selbst als Herrscher seines Schicksals sieht, einem Selbstbild folgt, das er nicht aufrecht erhalten kann und das sich als letztlich trügerisch und auch zerstörerisch erweist.
Die Natur ist dagegen immer sie selbst. Diesen Gegensatz hat Malick ja schon in "Der schmale Grat" betont, auch in "The New World", als das Naturkind Pocahontas sich in der Zivilisation von der Natur entfernt und daran letztlich zugrunde geht. Und so ist vielleicht auch die lange leidende, so gut es geht ihre Söhne unterstützende Mrs. O'Brien der Schlüssel, denn sie vereint Natur und Anmut. Aber wie immer gilt: Endgültige Interpretationen bleiben aus, hier muss jeder für sich selbst entscheiden.
Die schönsten Momente hat "The Tree of Life" direkt nach der "Schöpfung der Erde"-Sequenz, die kongenial überleitet von der Entstehung des ersten Säugetiers zu dem Baby, das Mrs. O'Brien zur Welt bringt. Es folgt eine andere Art von Schöpfungssequenz: Wie wird aus einem Neugeborenen ein Mensch, wie empfindet er? Malick verlässt sich vollkommen auf die Bilder, die er findet, fast wortlos wird Jacks Weg vom Neugeborenen zum Kind nachgezeichnet. Und was für schöne, ungekünstelte Bilder Malick hier findet. Man braucht gar keine Worte, das visuelle Erzählen reicht hier völlig. Auch wenn spätestens jetzt die Leute aufgeben, die bei der Schöpfungssequenz noch nicht die Flucht ergriffen haben, denn nur Malick erlaubt es sich, dem noch direkt eine weitere Viertelstunde Kindheitsbilder (so gut wie) ohne Dialog hinterherzuschicken, womit quasi die gesamte erste Stunde des Films ohne nennenswerte Verbaläußerungen auskommt.
Die drei die Brüder spielenden Jungdarsteller (besonders bemerkenswert: Hunter McCracken als Jack) feiern hier allesamt ihr Debüt, und das, was sich Malick von ihnen erhoffte, ist auch eingetreten: Abseits der Niedlichkeit und Altersklugheit üblicher Kinderstars sind die drei vor allem authentisch und ihre Art, miteinander umzugehen, wirkt so realistisch wie nur irgend möglich. Eine Story mag hier zwar fehlen, aber man kann nur bewundern, wie Malick Momente der Kindheit hier einfängt.
"The Tree of Life" hat jedoch auch seine Fehler und Fehlkalkulationen. Die größte davon ist die Rolle von Sean Penn als erwachsenem Jack. Penns Rolle ist fast wortlos und so klein, dass sie eher einem langgezogenen Cameo ähnelt, als einer Nebenrolle. Allerdings hätte man die Rolle gleich ganz streichen können, denn die Notwendigkeit, Jack als Mann mittleren Alters zu zeigen, ist nicht nachzuvollziehen. Zudem bestreitet er das Finale, den wohl schwächsten Teil des Films, bei dem Malicks Mystizismus ihn geradewegs ins Klischeebild führt, auch wenn er offen lässt, wofür dieses steht.
Aber egal, wie man es interpretiert, das Ende bleibt enttäuschend und verstärkt das Gefühl des Diffusen und Ziellosen von "The Tree of Life". Auch hier ist man gefangen zwischen Verständnis und Enttäuschung: Zum einen muss ein Unternehmen von der philosophischen Größe, die hier angepeilt wird, ziellos bleiben. Wer erwartet schließlich, dass Malick uns wirklich Leben, Sterben oder Sinn von allem dazwischen erklären kann. Und für den Großteil dieses Films ist das eigentlich auch okay, aber nachdem Malick in der zweiten Stunde des Films doch noch so eine Art Geschichte erzählt, ist die Coda mit Sean Penn gewollt mysteriös, dabei aber auch seltsam larifari. Wer "The Tree of Life" vorher als anstrengende Strafe empfunden hat, wird vom Ende nicht belohnt, sondern eher in der Idee bestärkt, dass das alles hier keinen rechten Sinn hat. Und selbst wer Malick bereitwillig auf seinem Weg gefolgt ist, empfindet das Ende dann eher als Antiklimax.
Apropos Antiklimax: Am Ende dieses Textmonsters zu einem Monster von Film steht der Rezensent nun etwas hilflos da, angesichts einer abzugebenden Bewertung, die den Film und seine Qualität auf einen Blick zusammenfassen soll. Und während einen Malick mit seinem mythischen Mammutwerk nicht kleingekriegt hat, so dann die Notwendigkeit einer Augenvergabe. Viele werden den Film hassen, einige werden ihn lieben. Es wird Ein-Augenwertungen geben, so wie es Zehn Augen-Wertungen geben wird. Der Rezensent selbst steht letzterer sehr viel näher als ersterer, wäscht seine Hände aber wie Pontius Pilatus in Unschuld und entlässt mögliche Augenfeilscher daher lediglich mit einer anzuwendenden Formel: Visionär plus Einzigartigkeit mal wundervolle Filmaufnahmen mal ansprechender Tonschnitt geteilt durch Langatmigkeit mal fehlende Stringenz mal eigenwilliger Natur-Mystizismus ergibt: ___ Augen (bitte selbst ausfüllen).
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