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Wir begleiten Frank durch drei lange Nächte eines Vollmond-Wochenendes. Dreimal die Friedhofs-Schicht. Die Zeit, in der all die Geister in den Straßen an die Oberfläche kriechen. Obdachlose, Junkies, Nutten überall. Es hat schon seinen Grund, warum jedem Rettungssanitäter diese Schicht für gewöhnlich nur zweimal pro Woche zugemutet wird. Frank macht sie dreimal hintereinander. Am ersten Abend fährt er mit Larry (John Goodman), der sich nur dafür interessiert, woher er seine nächste Mahlzeit bekommt, und die Schrecken seines Jobs gar nicht erst an sich herankommen lässt. Frank hat das auch einmal gekonnt. Bis er vor Monaten die minderjährige Prostituierte Rose nicht retten konnte. Sie war ein hoffnungsloser Fall. „Ich versuche, die hoffnungslosen Fälle zu vergessen, aber Rose wollte nicht gehen.“ Sie verfolgt ihn in seinen Halluzinationen. Wildfremde Menschen auf der Straße verwandeln sich plötzlich in Rose, blicken ihm direkt in die Augen, und Frank kann nichts dagegen tun. Larry und er schaffen einen Mann ins Krankenhaus, den sie nach einem Herzinfarkt so gerade am Leben halten können. Dessen Tochter Mary (Patricia Arquette) begleitet sie in die Notaufnahme, und sie ist immer noch dort, als Frank den nächsten Patienten herbeikutscht. Ihr Vater liegt drin und wird permanent ins Leben zurückgeschockt. „Gehen Sie nach Hause, sie können hier nichts tun“ sagt Frank ihr jedesmal, wenn er sie wieder sieht, wahrscheinlich aus Angst, er könnte eine emotionale Bindung zu ihr und ihrem Vater entwickeln. Aber sie will nicht gehen.
Scorsese kehrt mit „Bringing out the dead“ an den Ort seiner ersten Filme zurück. Die dunklen Seiten der miesen Viertel von New York, und Frank Pierce ist sein kraftvollster Charakter seit Travis Bickle, dem „Taxi Driver“. Am Anfang des Films verrät eine Einblendung, daß der Film zu Beginn der Neunziger Jahre spielt. Das ist wichtig, denn Mitte der Neunziger begann der republikanische Bürgermeister Giuliani mit seiner öffentlichen Law&Order-Politik, verstärkte rapide die Polizeigewalt und senkte die Kriminalitätsrate in der berühmtesten Metropole der Welt um etwa die Hälfte. „Hell’s Kitchen“, das Viertel, in dem Scorsese aufgewachsen ist, und in dem Frank seine Einsätze fährt, ist heute nicht mehr ganz so dreckig und finster wie damals. Scorsese fängt den tiefsten Punkt ein, an dem sich das Viertel jemals befunden hat, und er setzt Frank Pierce genau in die Mitte, hoffnungs- und machtlos, mit einem der schlimmsten Jobs, die man in dieser Hölle haben kann. Denn er sammelt sie alle ein, kratzt das Elend von der Straße auf, um es ins Krankenhaus zu schaffen, nur um es am nächsten Tage an anderer Stelle wiederzusehen. Einen Mann namens Cy (Latino-Star Marc Anthony), der durch eine neue Teufelsdroge halb wahnsinnig geworden ist, trifft Frank in jeder Nacht auf der Straße wieder, weil er immer wieder aus dem Krankenhaus abhaut. Fälle wie dieser sind es, die Frank’s Job niemals enden lassen. Selbst wenn es ihm endlich noch einmal gelingen sollte, jemanden zu retten, dann würden da draußen schon die hundert Nächsten warten, bei denen es ihm wieder nicht gelingen würde.
In der dritten Nacht werden die verschiedenen Handlungsfäden alle zu einem Ende geführt. Aber Scorsese weiß sehr wohl, daß es hier kein falsches Happy-End zu inszenieren gibt. Die Handlung selbst ist eher dünn, aber schlußendlich sehen wir nur einen Ausschnitt aus Frank’s Leben, sind für drei Tage und Nächte Zeugen seines Alltags. Mit dem Abspann findet die Geschichte um Mary und ihren Vater ein Ende. Aber ganz am Schluß des Films, nachdem der Abspann vorbei ist und das Touchstone-Logo eingeblendet wird, ist das letzte Geräusch, daß man hört, das Rufsignal des Sprechfunkgeräts. Der nächste Fall wartet schon. „Bringing out the dead“ ist ein Scorsese-Film. Als Qualitätsaussage sollte das fast schon reichen. Er hat hier wieder mit dem Drehbuchautor Paul Schrader zusammen gearbeitet, mit dem er seine größten Meisterwerke „Taxi Driver“ und „Wie ein wilder Stier“ teilt. Das sollte dann wirklich reichen. Schrader und Scorsese sind ein famoses Team, und leisten auch hier wieder nahezu perfekte Arbeit. Der Film basiert auf einem Buch von Joe Connelly, ehemals selbst Rettungssanitäter, und ist daher sicher nahe an der Realität. Hier wird nichts beschönigt. Die Notaufnahme, in die Frank seine Patienten bringt, ist ein einziger Hort des Chaos, wo gestresste Ärzte im Minutentakt Patienten defibrillieren, während die Aufnahmeschwester völlig entnervt den Junkies Vorträge hält, wohl wissend, daß sie morgen doch wieder kommen, und daß sie sie auch morgen wieder reinlassen wird. Das Elend der Straßen schwappt Nacht für Nacht durch die Türen hinein. Man beginnt zu verstehen, wie wichtig es für diese Menschen ist, in regelmäßigen Abständen ein Erfolgserlebnis zu verzeichnen. Wie Frank stehen sie ständig unter Gefahr, den Sinn ihrer Arbeit aus den Augen zu verlieren, und wie Frank brauchen sie ständig einen neuen Schuß. Leben retten ist eine Droge. In diesem Falle können wir wirklich froh sein, daß es Menschen gibt, die nach ihr süchtig sind. |
Ich
stimme mit vielen Leuten darin überein, daß „Emergency
Room“ die beste und realistischste Krankenhaus-Serie ist,
die
es im Fernsehen gibt. Aber auch „Emergency Room“
hinterläßt
stets den Eindruck, daß hier vieles immer noch zu sauber,
zu hoffnungsvoll, zu positiv dargestellt wird. Vielleicht,
weil
wir die Patienten erst sehen, wenn sie zur Notaufnahme
herein kommen.
Wie wäre es wohl, einen Schritt weiter vorne anzufangen,
im
Rettungswagen? Genau hierhin nimmt uns Martin Scorsese in
seinem
neuen Film mit. Ein Film, der nicht nur sein bester seit
„Good
Fellas“ ist, sondern auch die Rückkehr zu seinen Wurzeln
darstellt, den „Mean Streets“ von New York’s „Hell’s
Kitchen“.
Frank
Pierce (Nicolas Cage in seiner besten Rolle seit „Leaving
Las
Vegas“) ist Rettungssanitäter. „Jemandem das Leben
retten ist wie sich zu verlieben, die beste Droge der
Welt.“
Frank ist auf Entzug. „Ich habe seit Monaten niemand mehr
gerettet.“
Ihm fehlt der nächste Schuß, ein neuer Kick, der ihn
wieder zurück in die Normalität bringt. Oder wenn das
nicht geht, dann wenigstens raus. „Der Boss hätte mich
heute fast gefeuert“, erzählt Frank seinem Partner, als
er wieder einmal zu spät zur Arbeit kommt. „Ich bin auf
dem Weg nach draußen“, verkündet er mit einem Lächeln
auf den Lippen. Aber er weiß genauso gut wie wir, daß
er nicht entlassen wird. Er wird gebraucht, und er weiß
das.
Deswegen wird er immer wieder zur Arbeit gehen, und
deswegen wird
er nicht entlassen werden. Und während dem langen Warten
auf
den nächsten Schuß wird der Entzug immer schlimmer.
Als
er sie auch in er zweiten Nacht wiedertrifft, ist es
bereits geschehen.
Er kümmert sich um Mary, er sorgt sich um ihren Vater. Er
fühlt
mit einem hoffnungslosen Fall, und zieht sich so nur immer
mehr
hinein in sein eigenes Elend. Sein Partner in dieser
Nacht, Marcus
(Ving Rhames), ist fast schon ätzend positiv drauf. Als
guter
Christ benutzt er jede Rettung zum Predigen und deutet sie
als Wunder.
Als Frank und er einer Obdachlosen beim Gebären von
Zwillingen
helfen, ist dem Zuschauer schon zuvor klar, was passieren
wird:
Einer von beiden wird danach mit einem seligen „Ich habe
soeben
ein Baby gerettet“-Lächeln durch die Stadt fahren. Und
der andere wird mißmutig, beinahe frustriert daneben
sitzen,
neidisch ob des Schußes, den der andere gerade bekommen
hat.
Und wieder einen Schritt näher am eigenen Zusammenbruch.
Frank’s
Entzugserscheinungen werden denen eines „echten“
Drogensüchtigen
immer ähnlicher. Seine Halluzinationen werden schlimmer,
er
leidet unter Schlaflosigkeit, und versucht den Schmerz
durch andere
Drogen abzutöten. Die Whisky-Flasche ist eines der
wichtigsten
Utensilien im Rettungswagen. Und als Mary, selbst ein
Ex-Junkie,
vor lauter Schmerz wegen ihres Vaters nicht mehr kann und
zu ihrem
alten Dealer geht, kann auch Frank der Versuchung einiger
Stunden
ruhigen Schlafs nicht mehr widerstehen. Doch so ruhig wird
sein
Schlaf nicht werden.
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