Adèle (Adèle Exarchopo) ist auf den ersten Blick eine ganz normale Schülerin in Lille. Mit Schulfreundinnen redet sie über Jungs, die Freundinnen wollen wissen, wann Adèle endlich mit einem Jungen schläft. Zumal Thomas (Jérémie Laheurte) ein Auge auf sie geworfen hat. Aber eine Zufallsbegegnung auf dem Weg zu einem Treffen mit Thomas ändert alles für Adèle. Auf der Straße begegnet sie Emma (Léa Seydoux), einer jungen Frau mit blau gefärbten Haaren, die mit einer anderen Frau im Arm unterwegs ist. Die Blicke der beiden kreuzen sich und Adèles Leben gerät aus den Fugen. Sie kann nur noch an Emma denken. Nach einigen Wirrungen werden Adèle und Emma ein Paar. Aber dies ist erst der Beginn für diese Kapitel im Leben von Adèle...
Adèle Exarchopoulos ist anders als junge Frauen in Filmen, wahrscheinlich weil sie sich nicht Hollywoods Schönheitsidealen ergeben muss. Sie hat ziemlich große Lippen und Schneidezähne und sie schielt ab und zu ein wenig. Und trotzdem saugt sich die Kamera über die drei Stunden dieses Films an ihrem Gesicht fest und kann sich nicht satt sehen. Ähnlich geht es dem Zuschauer, auch in den weniger gloriosen Momenten im Leben der Adèle. Wenn es neben seiner Qualität an sich einen Grund gibt, diesen Film zu sehen, dann ist es die absolut furchtlose, hochgradig beeindruckende Leistung von Adèle Exarchopoulos, die den Film über seine lange Laufzeit zusammenhält. Um Adèle der Figur nahe zu kommen, rücken Regisseur Abdellatif Kechiche und sein Kameramann Adèle der Schauspielerin auf die Pelle. Kechiches Methode der Annäherung ist die Nahaufnahme, in so ungewohnter wie manchmal fast unangenehmer Nähe zu seinen Figuren. Adèle Exarchopoulos ist wie gesagt furchtlos und muss dies auch sein, denn Intimität gibt es im Fokus von Kechiches Close-Ups nicht: So filmt er sie beim Schlafen oder beim Kauen, jeweils mit offenem Mund. Und dies sind realistische Szenen, da sie nicht gespielt sind: Ein nicht geringer Teil der Filmszenen ist Material, das hinter den Kulissen gedreht wurde und aufgrund der Nennung des wirklichen Namens der Schauspielerin die Änderung ihres Rollennamens erforderte (im adaptierten Comic heißt die Figur Clémentine).
Diese ungewöhnliche Filmmethode bringt uns dann gleich mal zu den nicht einfachen Diskussionen, die „Blau ist eine warme Farbe“ umgeben. Wenn wir über den Film reden, müssen wir auch über die Debatten und Kontroversen reden, die ihn seit seiner Premiere in Cannes überschatteten. Als der Film seine Weltpremiere feierte, protestierten vor dem Filmpalast in Cannes die Gewerkschaft der Techniker in Filmproduktionen gegen die ihrer Ansicht nach unzumutbaren und illegalen Bedingungen des Drehs: unbezahlte Überstunden, „vergessene“ Lohnzahlungen, Psychoterror gegen Crewmitglieder, Wutanfälle des Regisseurs: die Liste der Klagen war lang. Kurz danach meldeten sich die Hauptdarstellerinnen zu Wort und ließen an Regisseur Abdellatif Kechiche kaum ein gutes Wort: „Extrem schwierig“ sei die Arbeit mit dem Regisseur gewesen, seine Besessenheit lässt wohlbekannte Obsessive wie David Fincher harmlos aussehen, wenn Kechiche mehere Dutzend Takes einer einzelnen Szene einforderte. Und wie gesagt: Auf der Jagd nach authentischem Material von hinter den Kulissen verfolgte Kechiche seine Hauptdarstellerin mit der Kamera einmal bis auf die Toilette. Das lässt wenig Zweifel: Kechiche ist ein Besessener mit Hang zum Psychopathentum, wenngleich auch im Namen der Kunst. Und so lieferte sich der beleidigte Regisseur dann diverse verbale Scharmützel mit der kritischen Seydoux, verteidigte sein Vorgehen mit künstlerischen Idealen und erklärte, der Film sei „beschmutzt“ durch die Kontroversen und komme besser gar nicht in die Kinos.
Letztlich sind natürlich alle dieser Kontroversen miteinander verbunden: Die Crew wurde schlecht behandelt, weil Kechiche in der Manier eines Terrence Malick oder eines Michael Cimino den Drehplan gnadenlos überzog (nämlich verdoppelte), verbissen auf der Suche nach Authentizität, jedoch sein Budget nicht überstreiten wollte (was nicht gelang, aber eben die diversen von der Gewerkschaft beklagten Probleme erklärt). Über 750 Stunden (!) Material wurde gedreht, dass Kechiche dann bis zur letzten Sekunde auf einen Dreistundenfilm zusammenschnitt und dabei wie Malick die Geschichte im Schneideraum strukturierte, sehr zur Überraschung seiner Darstellerinnen, die erst in Cannes entdeckten, was von ihrer Arbeit im Film blieb. Und ein Ergebnis von Kechiches Arbeit war dann als zentraler Punkt gegen Halbzeit des Films die nun schon fast berümt-berüchtigte Szene, in der Emma und Adèle zum ersten Mal miteinander Sex haben.
Und was für eine Szene dies ist. Unvergesslich ist sie sicherlich, wenn auch nicht hundertprozent aus den richtigen Gründen: Geschlagene sechs Minuten lässt Kechiche die Damen miteinander Sex haben (und brauchte dafür zehn Drehtage, sicherlich ein Grund für die Klagen der Hauptdarstellerinnen) und sie gehen dabei das komplette lesbische Kamasutra an Positionen durch. Das ist für das heterosexuelle Publikum durchaus lehrreich, aber Schwule, Lesben und Heteros dürfen sich vor allem bei einem einig sein: Für ein erstes Mal zwischen zwei Sexpartnern (und im Falle Adèles dem ersten lesbischen Sex überhaupt) ist es völlig überzogen und unrealistisch, dass die beiden, die den Körper der anderen erst kennenlernen müssen, stundenlangen Sex in einem Dutzend Variationen haben. Was Kechiche mit dieser Szene, die komplett ohne Musik auskommt, erreichen wollte, ist klar: die absolute Extase, besonders im Kontrast zu dem für Adèle wenig erquicklichen Hetero-Sex mit Thomas am Anfang. Aber er will damit dann zu viel zu schnell, und noch bevor die Damen dann fertig sind, hat es auch der letzte Zuschauer kapiert. Hier wäre weniger dann tatsächlich mehr gewesen.
Was sicherlich im Ganzen auch auf den Film zutrifft. Denn ob man diese Geschichte nun wirklich in drei Stunden erzählen muss, da darf man sich sicherlich drüber streiten. Kechiches Ziel ist klar, und misst man seinen Film nur an den gesteckten Zielen, dann ist er ein voller Erfolg: Seine Suche nach Authentizität lässt sich nur durch einen langsamen, stetigen Aufbau erreichen, ohne die üblichen filmischen Abkürzungen (Montagen, Expositionsreiche Dialoge), mit der man schneller zum klischierten Ziel kommt. Und während das im ersten Teil des Films auch noch ziemlich gut funktioniert, gibt es im zweiten Teil doch diverse Sequenzen, bei denen man sich fragt, ob das wirklich alles so quälend lang und langsam sein muss, besonders da der Verlauf der zweiten Hälfte bereits zu dessen Anfang deutlich abzusehen ist und man also nur wartet, dass die erwarteten Ergebnisse auch eintreten.
Und vielleicht hat dies auch mit der dramatischen Kurve des Films zu tun, denn während man im ersten Teil (oder Kapitel) einer aufflammenden Liebe zusieht und die Verzögerungstatktik in Kechiches methodisch-langsamem Stil mt der Erwartung der Auflösung dieser Spannung spielt, so ist dies weniger effektiv bei der absterbenden Liebe des zweiten Teils, wo man eigentlich nur auf das traurige Ende wartet. Als dies dann kommt, wartet der Film mit einer seiner besten, auch brutalsten Szenen auf Hier trägt Kechiches, nun ja, ungewöhnliche Methode nochmals entsprechende Früchte, realistischer hat man selten die Wut, das Entsetzen, die Ohnmacht einer solchen Trennung eingefangen gesehen.
Und inmitten der sehr langen Erzählung gelingen Kechiche durchaus beachtliche erzählerische Momente. Erfolgreich eine Schüssel Spaghetti Bolognese zu einer Metapher für die sozialen Hintergründe seiner Figuren und ihre Wünsche zu machen ist keine einfache Aufgabe. Und auch wenn Kechiches Kontrast zwischen den Essen bei den jeweiligen Familien vielleicht ein wenig zu sehr mit dem Holzhammer arbeitet – bei Adèles Familie aus dem Arbeitermilieu gibt es wie immer Spaghetti Bolognese, bei Emmas bourgeoisen (und die Homosexualität von Emma akzeptierenden) „bon vivant“-Eltern natürlich Austern und andere Meeresfrüchte – so nutzt er denselben Gegensatz bei einer von Adèle für Emma geplanten Geburtstagsfeier geschickt, um Adèles bodenständigen Wunsch nach einer weiblichen Mutterrolle zu verdeutlichen. In diesem Sinne sicherlich überraschend, dass sich Adèle offenbar nie Gedanken darüber macht, was ihre lesbische Beziehung für einen eventuellen Kinderwunsch bedeutet. Nicht, dass Kechiche jetzt gezwungen ist, alle Aspekte einer gleichgeschlechtlichen Beziehung duchrzuspielen, da er aber im zweiten Teil des Films besonderen Wert auf Adèles Beziehung zu Kindern (in ihrem Job als Kindergärtnerin) legt, fällt diese Auslassung aber durchaus auf.
„Blau ist eine warme Farbe“ ist ein sehr guter Film, dessen formelle Stärken – Intimität und Realismus durch langsamen, geschickten Aufbau – untrennbar mit seinen Schwächen – drei Stunden ist bei aller Liebe ein bisschen zu lang für diese Geschichte – verbunden sind. Das Zünglein an der Waage sind dann die unbestritten fantastischen Darstellerleistungen, allen voran die von Adèle Exarchopoulos. Denn während Léa Seydouxs Leistung zwar ebenfalls beeindruckend ist, merkt man ihr in jedem Moment das Spiel und die Arbeit dahinter an, während Exarchopoulos schlichtweg ihre Filmfigur ist. Kechiches Methoden mögen fragwürdig sein, erfolgreich waren sie zumindest in diesem Fall. Der Gewinner der goldenen Palme in Cannes – zum ersten Mal zugleich vergeben für Regisseur und die beiden Hauptdarstellerinnen – hat diesen Preis hochgradig verdient, und auch ein großes Publikum im Kunstkino Ihrer Wahl. Ein starkes Stück Kino.
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