So gut wie jeder kennt die von dem britischen Mathematiker und Schriftsteller Lewis Carroll erschaffenen Figuren rund um das siebenjährige Mädchen Alice, das sich nach einem langen und tiefen Fall durchs Kaninchenloch im Wunderland wieder findet, wo es unter anderem auf ein unter ständigem Zeitdruck stehendes weißes Kaninchen, einen verrückten Hutmacher und eine gerne die Köpfe ihrer Untertanen rollen sehende Königin trifft. Nicht ganz so viele Leute wissen allerdings, dass Carroll nicht ein, sondern zwei "Alice"-Bücher geschrieben hat ("Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln"), deren Handlungsstränge und Figuren in den zahlreichen Adaptionen für die Bühne, das Fernsehen und das Kino meistens bunt vermischt wurden. Genauso verhält es sich nun auch bei der neuesten Verfilmung des Stoffes, allerdings wird hier noch eine weitere Veränderung vorgenommen: Tim Burtons "Alice im Wunderland" will als Fortsetzung der beiden Geschichten von Lewis Carroll verstanden werden, denn hier kehrt Alice zwölf Jahre nach ihren ersten Abenteuern ins Wunderland zurück.
Doch der Reihe nach: Alice Kingsleigh (Mia Wasikowska) ist eine etwas verträumte, bisweilen rebellische 19jährige, die dem steifen, zahlreichen Konventionen unterworfenen Leben im viktorianischen England wenig abgewinnen kann. Zu ihrem Schrecken wird sie auf einer großen Gartenfeier vor ihrer gesamten Verwandtschaft damit überrascht, dass sie mit dem langweiligen Aristokratensohn Hamish Ascot (Leo Bill) verheiratet werden soll. Sie entflieht der Situation kurzerhand und rennt einem weißen Kaninchen hinterher, das zwischen den Büschen herumhuscht. Kurz darauf findet sie sich im besagten Kaninchenloch und anschließend im Wunderland wieder, an das sie jedoch keinerlei Erinnerungen hat - abgesehen von wiederkehrenden Träumen, die sie aber für eben nichts weiter hält als Träume. Unter den Bewohnern des Wunderlandes sorgt Alices Erscheinen sofort für Aufruhr, sind diese sich doch anfangs alles andere als einig darüber, ob es sich bei dem so plötzlich in ihre Lebenswelt geplumpsten Teenager auch wirklich um dieselbe Alice handelt, die ihnen schon einmal einen Besuch abgestattet hat. Dass dies von so großer Bedeutung ist, hängt mit einer alten Prophezeiung zusammen, die Alice eine bedeutende Rolle im Kampf um die Zukunft des Wunderlandes zuweist. Denn dort hat seit ihrem letzten Besuch die böse rote Königin (Helena Bonham Carter) die Macht an sich gerissen. Die Bewohner des Wunderlandes, unter ihnen der verrückte Hutmacher (Johnny Depp) und die weiße Königin (Anne Hathaway), brauchen nun Alice' Hilfe, um die Schreckensherrschaft zu beenden.
Tim Burton und "Alice im Wunderland" - diese Kombination klingt so nahe liegend, dass man sich fast schon fragt, warum der Regisseur sich diesem Stoff nicht schon vor Jahren genähert hat, schließlich gilt er als Experte, wenn es darum geht, bizarre Fantasiewelten und skurrile Charaktere auf die Leinwand zu bringen und hat mit "Big Fish" und "Charlie und die Schokoladenfabrik" bereits zwei äußerst gelungene Literaturverfilmungen auf diesem Sektor vorzuweisen. Die Figuren, die Lewis Carrolls Wunderland bevölkern, weisen mit all ihren Eigenheiten zudem eine große Ähnlichkeit zu den bekannten Charakteren aus Burtons früheren Filmen auf - angefangen bei der träumerischen Alice, die das unbestimmte Gefühl hat, anders zu sein als ihre Zeitgenossen und sich immer wieder aus der langweiligen realen Welt fort träumt, bis hin zu dem schon in seinem Erscheinungsbild verrückten Hutmacher, dessen stets unberechenbares Verhalten einen manchmal zweifeln lässt, ob er hier auch wirklich zu den Guten gehört. Letzterer ist nach dem torkelnden Piratenkapitän Jack Sparrow und dem zwischen liebvoll und unheimlich schwankenden Willy Wonka eine weitere Paraderolle für Johnny Depp, der hier bereits zum siebten Mal mit Burton zusammenarbeitet (knapp gefolgt von Burtons Lebensgefährtin Helena Bonham Carter, die nun in sechs Filmen des Regisseurs mit dabei war).
Wie ist er nun also geworden, Tim Burtons "Alice"? Der Film beginnt wie erwähnt mit einer großen Feier in der "realen" Welt. Dass dieser Auftakt noch etwas steif wirkt, ist ganz sicher gewollt, schließlich wird hier die Welt dargestellt, der Alice entkommen möchte. Nach dem anschließenden Fall ins Kaninchenloch und dem Eintritt ins Wunderland, bei deren Schilderung sich der Film noch eng an die Buchvorlage hält, bekommt man eine Welt zu Gesicht, die auf den ersten Blick ziemlich genau so aussieht, wie man es von einem Tim Burton erwartet. Zwischen knorrigen Bäumen und bunten Riesenpilzen tummeln sich hier liebevoll gestaltete, seltsame Wesen, die dieses Mal zu einem großen Teil aus dem Computer stammen oder zumindest erkennbar damit bearbeitet worden sind (so wurde etwa der Kopf von Helena Bonham Carter auf eine geradezu absurde Größe "aufgeblasen"). Alle Umgebungen und Kreaturen sehen dabei vollkommen überzeugend aus und auch die Interaktion zwischen den realen und künstlichen Figuren wirkt absolut nahtlos und glaubwürdig. Doch nach all den tricktechnischen Höchstleistungen, die man in den letzten Jahren auf der Leinwand bewundern durfte, ist das schon fast nichts Besonderes mehr.
In diesem Zusammenhang muss sich Tim Burtons "Alice" auch den Vergleich mit James Camerons "Avatar" gefallen lassen; schließlich zeigen beide Filme eine zum Großteil am Computer erschaffene Welt und wenden dabei das derzeit so angesagte 3D-Verfahren an (während allerdings Cameron seinen Film von vornherein in 3D gedreht hat, sparte Burton sich diesen zusätzlichen Aufwand und ließ die Bilder erst im Nachhinein in die dritte Dimension konvertieren). Und man muss es - nicht überraschend - eingestehen: "Alice im Wunderland" zieht hier ganz klar den Kürzeren. So überzeugend die Bilder hier auch wirken mögen, werden sie von jenen, die Cameron für sein Pandora gefunden hat, doch an Detail- und Einfallsreichtum bei weitem übertroffen. Schon in der ersten halben Stunde von "Avatar" steckt mehr Wunderland als "Alice" über seine gesamte Laufzeit zu bieten hat.
Insofern hat Burton einerseits ganz einfach Pech gehabt, dass "Avatar" ein paar Monate vorher in die Kinos gekommen ist; andererseits sieht sein Wunderland von Anfang an aber auch nicht ganz so wundervoll aus, wie man es sich erhofft hat. Die Burtonsche Handschrift ist zwar wie erwähnt in all den Designs deutlich zu erkennen und an der Qualität der Grafiken ist an sich nichts auszusetzen, doch die Landschaften wirken immer wieder seltsam leer und steril und damit wie eben genau das, was sie auch sind: nachträglich eingefügte Hintergrundbilder. Während zudem die Optik in Burtons besten Filmen stets nur ein Mittel zum Zweck war, um eine die Geschichte sinnvoll unterstützende Atmosphäre zu schaffen, scheint er hier doch ein wenig dem allgemeinen CGI-Wahn verfallen zu sein und präsentiert - wie in letzter Zeit etwa auch Robert Zemeckis und Peter Jackson - einen Film, in dem die Möglichkeiten des visuell Machbaren zwar durchaus immer wieder eindrucksvoll demonstriert, aber nicht immer auch wirklich sinnvoll genutzt werden.
Dass einen das Wunderland hier nicht so sehr in seinen Bann zieht, wie es die Schauplätze früherer Burton-Filme getan haben, liegt zusätzlich an dem über weite Strecken recht flachen und uninspirierten Drehbuch. Sobald Alice das Wunderland betritt, werden in schneller Folge neue Figuren und Wesen geradezu in die Handlung geworfen, ohne dass man Gelegenheit bekommt, irgendeine Art von tieferer emotionaler Bindung zu oder echtes Interesse an ihnen zu entwickeln. Nur wenigen lässt die Geschichte genug Raum, um auch über ihr dreidimensionales Abbild hinaus präsent zu sein. Das wirkt ein wenig so, als sei man bemüht gewesen, auch ja möglichst vielen der Charaktere aus den Buchvorlagen einen Auftritt im Film zu verpassen.
Das größte Potential zur Charakterentwicklung bieten dabei die rote Königin (die eine Mixtur aus der Herzkönigin des ersten und der roten Königin des zweiten "Alice"-Buches darstellt) und der verrückte Hutmacher, der als komplexe Figur hier eindeutig am Besten gelungen ist. Er pendelt erkennbar hin und her zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen Euphorie und Depression. Allerdings wirkt auch Johnny Depp trotz seines gewohnt souveränen und verspielten Schauspiels zwischen all den künstlichen Figuren und Welten gelegentlich ein wenig verloren. Dass Anne Hathaway recht farblos bleibt, liegt weniger daran, dass sie nun einmal die weiße Königin spielt, sondern einmal mehr am Skript, dass ihr nur wenig Leinwandzeit zugesteht und die Beweggründe für ihr Handeln lange Zeit kaum klarmacht. Auch was den Spannungsaufbau betrifft, hat das Drehbuch so seine Schwierigkeiten; die Handlung wirkt weitgehend wie aus mehreren Einzelepisoden zusammengesetzt, die für sich zwar meistens witzig sind, aber nicht konsequent genug auf den großen Kampf am Ende hinführen.
Die die menschlichen Charaktere ergänzenden computeranimierten Figuren sind allesamt wirklich liebevoll gestaltet und bekommen in der Originalfassung von durchweg prominenten Sprechern wie Alan Rickman (als Raupe), Stephen Fry (als Grinsekatze) oder Christopher Lee (als Jabberwocky) ihre Stimmen geliehen. Das sorgt immer wieder für Aha-Effekte beim Anschauen, wenn man wieder eine bekannte Stimme identifiziert hat. Und dann wäre da ja noch die von der bislang wenig bekannten Mia Wisakowska gespielte Alice. Leider haben wir es hier mit einer der größten Schwächen des Films zu tun. Die bisher vor allem in Nebenrollen agierende Wisakowska ("Defiance") hangelt sich meist passiv von Szene zu Szene, mit den immer gleichen Gesichtsausdrücken mehr oder weniger glaubwürdig über die sie umgebenden Wunderwesen staunend, schafft es dabei jedoch selten, ihrer Alice wirkliche emotionale Tiefe zu verleihen und bleibt in all ihrem Staunen doch recht ausdruckslos. Der eigentliche Clou der Geschichte - Alice' Rückkehr ins Wunderland, das sie zum letzten Mal als Siebenjährige besucht hat - erweist sich zudem als gar kein so großer und für die Geschichte letztendlich von nur geringer Bedeutung. Die sparsam eingestreuten Rückblenden auf Alice' ersten Besuch im Wunderland lassen da schon manchmal den Wunsch aufkommen, Burton hätte doch den ganzen Film der Vorlage entsprechend mit der siebenjährigen Alice als Protagonistin gedreht.
Um nun durch all die hier geübte Kritik nicht den Eindruck aufkommen lassen, Burton habe seine "Alice" vollkommen vermurkst, muss noch schnell ein wenig Entwarnung gegeben werden: Zwar hat der Film einige gravierende Schwächen und ist ganz bestimmt nicht das neue Meisterwerk, das man sich bei einem Regisseur dieses Kalibers und mit einer so großen Fangemeinde ja immer erhofft. Wer Tim Burtons Filme kennt, der bekommt hier genau das, was er erwartet, nur eben leider ohne den Extrabonus an vor abstrusen Ideen überbordender Genialität, die Burtons beste Werke auszeichnet. Johnny Depp und Helena Bonham Carter haben erneut zwei erinnerungswürdige Charaktere geschaffen und einige der animierten Nebenfiguren sind wirklich hervorragend gelungen (allen voran der hysterische Märzhase). Kenner von Lewis Carrolls Büchern dürfen sich zudem über zahlreiche Zitate und Anspielungen freuen (wie etwa einen von Johnny Depp herrlich vorgetragenen Auszug aus dem Nonsens-Gedicht "Jabberwocky").
Angesichts der Herausforderung, einen in weiten Teilen in künstlichen CGI-Welten spielenden 3D-Film zu drehen, und ausgestattet mit einem unausgegorenen Drehbuch, hat Tim Burton dieses Mal wohl das Ziel, eine anrührende Geschichte mit nicht nur visuell beeindruckenden Figuren zu erzählen, ein wenig aus den Augen verloren. Es scheint, als sei er im Verlauf der Entstehungsgeschichte des Films immer noch nicht ganz bei seiner persönlichen Vision des Wunderlandes angekommen. Wahrscheinlich fällt er immer noch durch das Kaninchenloch.
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