Eine von vielen Szenen, die bleiben: Die zwei Teenager Marco und Ciro haben gerade ein geheimes Waffenarsenal eines neapolitanischen Mafiaclans geplündert und wollen die erbeuteten Handfeuerwaffen ausprobieren. Deshalb laufen sie am Flussufer entlang und ballern was das Zeug hält. Es ist ein Freudenfeuer und eine Euphorie, die sich damit erklären lässt, dass Marco und Ciro die Waffen nicht für einen rivalisierenden Clan geklaut haben, sondern voll und ganz in Eigeninitiative. Befehle auszuführen ist ihre Sache nicht. Diesen beiden naiven Jungs dabei zu zusehen, wie sie nur in Turnschuhen und in Unterhosen mit den Gewehren spielen, gehört zu den erschreckendsten Bildern des Films "Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra". Erschreckend sind diese neblig grauen Bilder, da sie zuerst den Eindruck vermitteln, dass es sich hierbei um eine dystopische Weltuntergangsvision handelt. Alles scheint weit weg von dem, was wir vielleicht als realen Alltag eines westeuropäischen Landes bezeichnen würden. Man fühlt sich eine Zeit lang an Alfonso Cuaróns Film "Children of Men" erinnert. Doch Matteo Garrones Meisterstück ist kein düsterer Zukunftsblick, es ist ein schockierend reales Porträt des heutigen Mafiasystems in Italien. Man muss sich jedenfalls immer wieder kneifen, um das nicht zu vergessen.
Dass der Film dabei keinen gewollten Klischees auf den Leim geht, ist zu aller erst dem Mann zu verdanken, der nicht nur die Buchvorlage verfasst, sondern auch das Drehbuch geschrieben hat - Roberto Saviano. Saviano wurde durch die Veröffentlichung seines mittlerweile in 22 Länder verkauften Romans "Gomorrha" schlagartig berühmt. Sein Buch, das ungeschönt die Vorgehensweisen der Mafia in Süditalien schildert, brachte ihm nicht nur das Lob der Politik und Literaturkritik ein, sondern auch massive Drohungen einzelner Mafiamitglieder. Dies führte dazu, dass Saviano nur noch unter massivem Polizeischutz in die Öffentlichkeit geht. Dass er sich aber nicht einschüchtern lässt und immer wieder die Missstände anprangert und dabei die Handlungsabläufe der Mafiaclans offen legt, kann man diesem mutigen Mann gar nicht hoch genug anrechnen. Unter solchen Voraussetzungen durfte die Verfilmung seines Werkes nicht in einem stumpfsinnigen Mainstreamfilmchen enden, das doch nur wieder gängige Mafiabilder auf die Leinwand projizieren würde.
Denn wenn man kurz inne hält und dann Revue passieren lässt, welche Darstellungen der Mafia das Kino in unseren Köpfen hinterlassen hat, dann kristallisiert sich ein ziemlich klares Bild heraus. Ob nun Francis Ford Coppolas "Pate"-Trilogie, Sergio Leones Epos "Es war einmal in Amerika" oder Martin Scorseses Mafiaklassiker wie "Good Fellas" und "Casino", all diese Filme prägen ein bestimmtes äußeres Bild der Mafia. Sie präsentieren ein von Männern dominiertes System, das aus religiösen Kriminellen besteht, die still und äußerst präzise ihren Machenschaften nachgehen. Trotz zahlreicher Variationen bleiben diese Stereotypen in ihren Grundfesten gleich. Doch kann man einen kleinen kontinentalen Unterschied festmachen. Im US-amerikanischen Kino wird der Mafioso vermenschlicht. In den italienischen bzw. europäischen Kinofilmen über die Mafia stellt sich hingegen immer das Gefühl der Allgegenwärtigkeit ein. Die ganze Gesellschaft und das ganze Land war, ist und wird immer von der Mafia auf unsichtbare Art durchdrungen sein. Man denke nur an die Filme von Francesco Rosi ("Wer erschoss Salvatore G.?", "Lucky Luciano"), die dies fast immer auf fantastische Weise wiedergeben konnten. Doch "Gomorrha" - und das ist das Herausragende an diesem Film - verleibt sich beide Mythen ein und geht dabei doch einen anderen Weg.
In losen und nahezu völlig voneinander unabhängigen Episoden werfen Garrone und Saviano einen kühlen und gleichzeitig auch brutalen Blick auf die realen Strukturen der italienischen Mafia. Natürlich schafft es der Film nicht dieses engmaschige kriminelle Netz völlig aufzuspinnen. Den finalen Unterschied zwischen den Clans der Camorra, der Cosa Nostra, der 'Ndrangheta oder auch der Sacra Corona Unita vermag auch "Gomorrha" nicht vollends aufzuschlüsseln. Doch war das nicht das Ziel der Filmemacher. Das Beste, was ein Film wie "Gomorrha" erreichen kann, ist ein Gefühl für die eigene Unkenntnis zu vermitteln. Wir wissen, dass es die Mafia gibt. Wir wissen auch, dass die Mafia ein hochkriminelles System ist, welches sich mittlerweile durch die ganze Welt zieht. Doch in Wirklichkeit wissen wir nichts. Die tatsächlichen inneren Abläufe sind uns fremd. Deshalb ist die Leistung von Matteo Garrones Film gar nicht hoch genug einzuschätzen.
Wenn er den dreizehnjährigen Toto (Salvatore Abruzzese) zeigt, der unbedingt für einen seiner Familie verfeindeten Mafiaclan arbeiten möchte, dann wird deutlich, dass das Geld und die daraus resultierende Arbeit für ihn eine Perspektive in einem ansonsten ziemlich perspektivlosen Leben ist. Für Don Ciro (Gianfelice Imparato), genannt das "U-Boot", ist sein Job als Buchhalter der Mafia alles andere als lukrativ. Er zahlt den Hinterbliebenen toter Clanmitglieder ein sporadisches Gehalt aus. Doch immer wieder gerät er zwischen die Fronten. Franco (Toni Servillo) hingegen arbeitet im Müllbeseitigungsgewerbe. Er erwirbt im ganzen Land Grundstücke, die er dann dazu benutzt, um für unverschämte Summen Abfälle, illegalen Bauschutt oder auch Giftmüll ganz dezent verschwinden zu lassen. Man muss sofort an die stinkenden Müllberge Neapels denken, denen die aktuelle italienische Regierung unter Silvio Berlusconi nur mit großer Mühe Herr wird. Einen noch weit globaleren Ansatz verfolgt Pasquale (Salvatore Cantalupo). Der Schneider arbeitet in kleinen Betrieben, die mit exklusiven Kleidern die Träger der aktuellen Haute Couture beliefert. Als ihm ein chinesischer Fabrikarbeiter eines konkurrierenden Massenbetriebes viel Geld anbietet, um seine Technik den Arbeitern beizubringen, willigt dieser blauäugig ein, ohne zu merken, dass er damit den eigenen Betrieb und die dazugehörigen Mafiamitglieder gehörig verrät.
Man kann nur leise erahnen, wie weit die Macht der Mafia tatsächlich greift. Der Film spart, obwohl er ausschließlich in Italien spielt, die ständig anhaltenden Konflikte mit der chinesischen oder auch russischen Mafia nicht aus. Doch "Gomorrha" verheddert sich nie in Kleinigkeiten. Er gönnt sich keine Längen. Langweilige Passagen sucht man hier vergebens. Jedes Bild, jede Einstellung spiegelt so einen gewissen Teil des italienischen Alltags wider. Der große heruntergekommene Sozialbau in "Scampia", einem Bezirk Nordneapels, der ohne Weiteres aus einem Science-Fiction-Film der 80er Jahre stammen könnte, entwickelt sich während des Films zum sozialen Brennpunkt in dem sich auf Dauer Armut, Kriminalität, Gier, Gewalt und gesellschaftlicher Verfall auf unaufhaltsame Weise miteinander vermischen. Das ist soziale Horrorarchitektur par excellence.
Bis zu seinen letzten Einstellungen bleibt "Gomorrha" düster, pessimistisch und gnadenlos. Hoffnung vermag man eigentlich nirgendwo festzumachen. Wie soll das auch möglich sein in einer Welt, in der jede falsche Entscheidung mit dem eigenen Tod oder mit dem Lebensende der eigenen Familie bestraft werden kann. Das bereits erwähnte omnipräsente Ohnmachtsgefühl "Bis du drin, kommst du nie wieder raus" stellt sich auch hier wieder ein.
Dieser Film elektrisiert und macht auf die realen Umstände eines Landes aufmerksam, dass sich heute mehr denn je in einer Krise befindet. Und wer nach dem Sehen von "Gomorrha" immer noch die Mafia und die damit verbundenen Schwierigkeiten als ein alleiniges Problem Italiens begreift, hat nichts verstanden. Mit "Gomorrha" präsentiert sich das italienische Kino so stark wie schon lange nicht mehr. Ein großartiger, einmaliger und vor allem wichtiger Film, der wahrscheinlich zum Besten gehört, was man dieses Jahr im Kino zu sehen bekommt.
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