Während das westliche Publikum Zeichentrickfilme zumeist immer noch als Kinderkrams abtut, richteten sich die japanischen Animes schon immer besonders an das erwachsene Publikum. Dies trifft auch auf die Filme des Regisseurs Satoshi Kon ("Perfect Blue", "Millenium Actress") zu, die sich mit der realen Welt auseinandersetzen und damit wenig verwunderlich weit abseits der Waldgeister-Welt von Hayao Miyazaki ("Prinzessin Mononoke", "Das wandelnde Schloss") liegen. Von Satoshi Kon hätte bislang niemand einen Weihnachtsfilm erwartet, und nun überrascht er mit "Tokyo Godfathers". Dies wäre jedoch kein Kon-Film, wenn er nicht weit mehr als nur eine hübsche Festtagsgeschichte wäre. Und so sehen wir mit "Tokyo Godfathers" eine rasante Komödie mit dramatischen Elementen, die von Obdachlosigkeit über Kindesentführung und Vergangenheitsbewältigung bis hin zu wilden Verfolgungsjagden alles enthält, was man von einem Weihnachtsfilm nicht unbedingt erwartet hätte.
Es ist Weihnachten in Tokio. Nicht die drei Weisen aus dem Morgenland, sondern drei Obdachlose - ein Säufer, Gin, ein Transvestit, Hana, und eine jugendliche Ausreißerin, Miyuki - finden in einem Müllhaufen ein ausgesetztes Baby. Hana wünscht sich schon lange, einmal Mutter sein zu dürfen (was natürlich etwas schwierig umzusetzen ist). Trotzdem entscheiden die drei, das Kind der wahren Mutter zurück zu geben, da sie es vor einem Leben auf der Straße beschützen wollen. Es beginnt eine Suche durch die Stadtlandschaft, in der sie nicht nur auf Gangster, Krankenwagen und brutale Jugendliche treffen, sondern auch mehr über die eigene Vergangenheit preisgeben und lernen, sich dieser zu stellen.
Der
Film ist ein Quasi-Remake von John Fords Western "Spuren im
Sand" ("Three Godfathers") von 1948, in dem drei
Bankräuber in der Wüste ein Baby finden und in die Zivilisation
zurück bringen. War es damals schon schräg, aus dieser
Geschichte einen Western zu machen, erscheint es noch schräger,
diese Idee mit Obdachlosen in Tokio umzusetzen. Doch genau hier
liegt auch der Reiz dieser Geschichte: Obdachlosigkeit ist ein Thema,
welches in Japan - wie auch im Westen - gern unter den Tisch gekehrt
wird. Kaum jemanden scheint zu interessieren, wie es da unten in
der Gosse tatsächlich zugeht. Es ist Kon zu verdanken, dass
Obdachlose hier sogar zu Identifikationsfiguren werden, obwohl dieser
Film keine Anprangerung sozialer Ungerechtigkeit an sich ist.
Es wird gezeigt, wie normale Menschen auf die Straße geraten
können, wie sie von halbstarken Schuljungen zusammen geschlagen
werden, weil man es mit ihnen ja folgenlos machen kann, und wie
sie sich gegenseitig helfen, aber auch gegenseitig behindern und
mit Alkoholismus und mit Ablehnung (auch aufgrund ihres Gestanks)
zu kämpfen haben. Sind die Protagonisten anfänglich Klischeefiguren,
so wird ihnen im Verlauf des Filmes immer mehr Tiefe verliehen,
wodurch sie dem Zuschauer über ihre Fehler und Macken immer
näher kommen.
Ebenso
außergewöhnlich wie die Hauptdarsteller ist die urbane
Landschaft, in der sich die Geschichte ereignet. Kon zeigt nicht
das schicke Tokio, wie man es aus "Lost in Translation"
oder anderen Filmen kennt, sondern betont die schmutzige Grundfläche
der Stadt. Die Mülleimer und Luftschächte, die verlassenen
Häuser und Hinterhöfe sind es, die er zeigt. Der Kontrast
zwischen der eher kalten Farbpalette der Metropole, dem weißen
Schnee und den warm gehaltenen Momenten der Zwischenmenschlichkeit
zeichnen ein zweigeteiltes Bild, welches die Geschichte und die
Figuren stützt.
Um möglichst realistisch wirkende Hintergründe zu kreieren,
wurden Digitalfotos aller im Film verwendeten Objekte in der Stadt
geknipst, die dann originalgetreu nachgezeichnet wurden. Dieses
mag visuell erst einmal gewöhnungsbedürftig sein, ist
aber eine interessante Weise der Bildkomposition für einen
Animationsfilm.
Interessant ist auch die Musik, die sich auf westliches Kulturgut stützt und so die Mode-Orientierung Tokios zum Westen hin sanft karikiert. Vom Musical "The Sound of Music" bis zum deutschen Klassik-Superkracher, Beethovens "Ode an die Freude", reicht hier das Spektrum. Auch "Stille Nacht, heilige Nacht" fehlt natürlich nicht.
Zu bemängeln ist, dass Kon kontinuierlich Zufälle verwendet, um die Handlung weiterzubringen. Man mag dies auf die wundersame Weihnachtszeit schieben, doch ist es manchmal arg viel, was hier aus dem Hut gezaubert wird. Kon nutzt Zufälle sowohl um komische Elemente einzubringen als auch um die Geschichte in die richtigen Bahnen lenken zu können. Zugegebenermaßen gelingt es Kon auf diese Weise aber auch effektiv, die Geschichte mit all ihren Subplots und Verflechtungen in einer handhabbaren Laufzeit für einen Animationsfilm erzählen zu können.
Im Gegensatz zu "Perfect Blue" und "Millenium Actress" ist "Tokyo Godfathers" erzählerisch konventioneller umgesetzt und alles in allem etwas optimistischer, doch zeigt sich auch hier die Kunstfertigkeit des Regie-Stars Satoshi Kon. Es bleibt zu hoffen, dass der Kinostart nun auch im Westen mehr Erwachsene in Animes lockt, da sie ansonsten eine Art des Kinos verpassen, die ihre eigenen Reize hat. Wem "Tokyo Godfathers" gefällt, kann sich gleich die DVD mit vielen Extras kaufen, denn im Gegensatz zu anderen Kinofilmen gab es diesen in Deutschland schon als DVD zu kaufen, bevor er im Kino anlief. Auch dies kann man als wundersamen Zufall betrachten…
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