St. Pauli Nacht

Originaltitel
St. Pauli Nacht
Jahr
1999
Laufzeit
95 min
Genre
Release Date
Bewertung
6
6/10
von Frank-Michael Helmke / 19. März 2011

„Wer noch niemals in sternklarer Nacht
einen Reeperbahn-Bummel gemacht,
ist ein armer Wicht,
denn er kennt es nicht,
mein St. Pauli, St. Pauli bei Nacht“

Es gibt Leute, die die Romantik des Hans Albers-Klassikers noch wiederentdecken, wenn sie über den Kiez schlendern. Es gibt auch solche, für die Hamburgs berühmteste Meile nichts weiter ist als ein gigantischer Sündenpfuhl voller amoralischer Gestalten, dunkler Geschäfte, Sex und Gewalt. Weder die einen noch die anderen werden jedoch leugnen können, daß St. Pauli einen ganz eigenen Charme hat, eigene Gesetze und eigene Regeln, und daß hier alles ein bißchen anders ist.
Sönke Wortmann wirft in seinem neuen Film einen Blick in diese Welt. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Autor Frank Göhre folgt der Regisseur einem Haufen von ca. fünfzehn Hauptcharakteren, die sich im Verlaufe einer Nacht alle irgendwie über den Weg laufen. Da gibt es den gerade aus der Haft entlassenen Kiezganoven Johnny, der sich mit der „soliden“ Steffi von seinem alten Leben trennen will. Den verzweifelten Postboten Manfred, der innerhalb von drei Minuten eine verwüstete Wohnung vorfindet und am Telefon zuhören muß, wie seine Frau einen anderen vögelt. Den Verlierer Sven, der für Gangster und Polizei gleichsam als Informationsbeschaffer herhalten muß und von einer Bredouille in die nächste stolpert. Die Transsexuelle Roberta, die zwischen Nuttendasein und abgöttischer Liebe zu ihrem Zuhälter pendelt. Ihren kleinen Bruder Timo, der mit seinem Kumpel Eric Autos und Zigarettenautomaten knackt. Die frustrierte Grafik-Designerin Dorit, die ausgerechnet im Fitnesstrainer ihrer Nachbarin endlich einen brauchbaren Mann findet. Den Taxifahrer Robby, der sich mit durchgeknallten Fahrgästen auskennt. Und noch ein halbes Dutzend mehr ...
Es ist klar, „St. Pauli Nacht“ ist ein Ensemblefilm mit vielen kleinen Geschichten. Der kritische Punkt dabei ist immer, allen Figuren in der kurzen Zeit, die sie auf der Leinwand präsent sind, genug Leben einzuhauchen. Wenn das nicht gelingt, bleibt es eine Ansammlung von Kurzgeschichten, ohne daß wirklich etwas hängen bleibt. Leider ist dies genau der Punkt, an dem Wortmann scheitert. Und das ist noch nicht einmal allein seine Schuld. 
Göhre’s Roman war sicherlich eine packende Vorlage, doch verpaßt der Autor die Gelegenheit, einige essentielle Informationen über seine Figuren hinüberzuretten, durch die sie wesentlich genauer gezeichnet würden. So erfährt man im Film z.B. nicht, daß der Postbote Manfred mit seiner Frau aus dem Osten kam und vom „Goldenen Westen“ völlig desillusioniert ist. Daß Dorit Grafik-Designerin ist, weiß auch nur der Leser des Buches, im Film könnte sie genauso gut ein Model sein. Und der Taxifahrer Robby ist nicht mehr als jemand, der andere Charaktere von da nach dort fährt und ein paar Stichworte gibt. Eigentlich schade, denn besonders diese Figur hätte einiges mehr hergegeben.
Bei den Schauspielern sieht es auch nicht sehr gleichmäßig aus. Während Armin Rohde eine absolute Wahnsinnsvorstellung abliefert, bleiben andere Größen wie Axel Milberg eher blaß, und Peter Sattmann wirkt eher lächerlich als glaubhaft. Kein Wunder, daß von den „großen“ Namen die beste Szene an Heiner Lauterbach geht, der zwar nur ein zweiminütiges Cameo als Taxigast hat, in dieser kurzen Zeit aber den besten Monolog und den schillerndsten Charakter hinlegt. Positiv überraschen können dagegen die Kino-Neulinge Valerie Niehaus (bekannt aus „Verbotene Liebe“) als Dorit und VIVA2-Moderator Ill-Young Kim als Taxifahrer, die aus ihren dünnen Parts noch das beste rausholen. Natürlich drängt sich bei so einem Film der Vergleich zu Altman’s „Short cuts“ auf, in dem eine ähnliche Anzahl Charaktere wild durcheinander geworfen wurde. Im Gegensatz zu „St. Pauli Nacht“ gelang dort sowohl das Erzählen als auch das genaue Zeichnen der Figuren, und am Ende hatte man ein Bild vom alltäglichen Wahnsinn in Los Angeles. In Wortmann’s Film ist das weniger der Fall. Es werden viele Aspekte vom Leben in St. Pauli beleuchtet, aber es bleibt alles irgendwie eindimensional, und so typische Figuren wie Zuhälter, Schläger oder Prostituierte sind nicht mehr als Klischees, die lustlos wiedergekäut werden. Wortmann hätte gut daran getan, sich mit seinen Figuren ein bißchen mehr Zeit zu nehmen. „Short cuts“ war nicht umsonst drei Stunden lang. Sicher, man mutet dem Zuschauer einiges zu. Aber in knapp 95 Minuten kann man so etwas einfach nicht zufriedenstellend lösen.
Den Kick bei solchen Episodenfilmen machen die zufälligen Treffen der Hauptpersonen aus. Je komplexer die Verstrickung der einzelnen Geschichten ineinander, desto faszinierter ist der Zuschauer vom ganzen Plot. Und auch hier nutzt „St. Pauli Nacht“ nur wenige seiner Möglichkeiten. Eine Vielzahl an Treffen ist vorhanden, aber diese werden meist benutzt, um von einer Episode in die nächste zu wechseln, so daß ständig chronologische Rückschritte gemacht werden, damit eine Figur die anderen wieder „einholen“ kann. So bleibt das ganze zwar in einer übersichtlichen Ordnung, wesentlich interessanter und vor allem temporeicher ist es jedoch, wenn die Episoden ständig parallel laufen und man wirklich ein Gefühl von Gleichzeitigkeit bekommt (eben wie in „Short cuts“). So wirken die Verstrickungen teilweise nur als dramatisches Gimmick, das den Plot künstlich vielschichtiger machen soll. Trotz dieser Auflistung negativer Punkte sollte dennoch nicht aus den Augen verloren werden, daß auch hinter diesem Film eine beachtliche Leistung steht. Die Koordinierung und das gekonnte Verweben so vieler Handlungsstränge ist schon schwer genug, und der Zuschauer kriegt einige wirklich gelungene Szenen zu sehen. Man merkt aber auch, daß Wortmann mehr auf dem Comedy-Sektor zu Hause ist. So wirken die leicht humoristisch angehauchten Charaktere richtig echt, während die tragischen und harten Szenen teilweise zu gekünstelt rüberkommen. 
Wortmann hat sicherlich gute Arbeit geleistet. Jedoch hat man die harte Darstellung des Hamburger Milieus schon besser in Fatih Akin’s „kurz und schmerzlos“ gesehen (und der spielte in Altona). Und die verwobene Episodenstruktur würde wahrscheinlich auch besser gefallen, wenn „Short cuts“ es nicht so viel besser vorgemacht hätte.
„St. Pauli Nacht“ ist ein gut gemachter, aber kein beeindruckender Film, der an vielen Stellen an verpaßten Chancen kränkelt. So unterhaltsam wie ein Reeperbahn-Bummel bei Nacht ist er aber allemal.


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