MOH (82): 10. Oscars 1938 - "Sackgasse"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
In unserer letzten Folge sind wir bis nach China gereist, nun kehren wir mit “Sackgasse“ zurück in die USA – direkt in die Slums von New York. Leider plagen den ersten Auftritt von Hollywood-Legende Humphrey Bogart in unserer Oscar-Reihe aber so ein paar Problemchen – allen voran ein zu gekünstelt wirkendes Setting.
Sackgasse
Zugegeben, ein wenig hatte ich dem ersten Auftritt von Bogart in unserer Oscar-Reihe schon entgegengefiebert. Bei den 10. Academy-Awards im Jahr 1938 ist es nun so weit und “Bogie“ gibt uns als Gangster im Gesellschaftsdrama “Sackgasse“ das erste Mal die Ehre. Leider nur in einer Nebenrolle und auch nicht ganz so charismatisch wie erhofft, was jedoch symptomatisch ist für einen Film, bei dem schon das Set eine nicht ganz passende Künstlichkeit ausstrahlt. Nur eine kreative Inszenierung verleiht der recht oberflächlichen Geschichte ein paar interessante Facetten und so wird das wieder eine dieser Kritiken, bei denen der Blick hinter die Kulissen interessanter ausfällt als der auf das Geschehen davor.
Wieder einmal steht für “Sackgasse“ ein bekanntes Broadway-Stück Pate, das durch seine unverblümte Schilderung des harten Alltagslebens einiger Jugendlicher in den New Yorker Slums damals für Aufmerksamkeit sorgte. Die Handlung fokussiert sich auf eine einzelne Gasse in der eine Jugendgang rund um den jungen Tommy (Billy Halop) abhängt und von einem Leben als Gangster träumt – die scheinbar einzige Chance auf eine “erfolgreiche“ Zukunft. Tommys ältere Schwester und Vormund Drina (Sylvia Sidney, "Mars Attacks!") sieht solche Lebensziele berechtigterweise kritisch, hat aber durch ihre Armut noch genug andere Sorgen. Ihr Herz hat sie derweil hoffnungslos an den arbeitslosen Architekten Dave (Joel McCrea) verloren, der allerdings ein Auge auf die wohlhabende Kay (Wendy Barrie) geworfen hat, die in einem luxuriösen Anwesen am Ende der Gasse residiert. Als ob die Lage nicht schon kompliziert genug sei kehrt eines Tages der berüchtigte Gangster Baby Face Martin (Humphrey Bogart) in die Gasse und damit den Ort seiner Kindheit zurück. Er möchte ein paar alte Beziehungen wiederaufleben lassen, was dramatische Konsequenzen nach sich zieht.
Vermutlich wird mancher bei der Inhaltsangabe kurz gestutzt haben – ein Luxusanwesen mitten in den New Yorker Slums? Inspiriert ist der Ort der Handlung vom sogenannten River House, einem mit Luxus-Penthouse-Wohnungen ausgestatteten Hochhaus am New Yorker East River. Die schwere Wirtschaftskrise der 1930er Jahre hatten damals einige reiche Bürger des Big Apple dazu genutzt, mit teils pompösen Gebäuden die dortigen Slums zu verdrängen – schließlich bot sich vor Ort die Chance auf exklusive Anlegestellen für noch exklusivere Yachten. Die so entstehenden Spannungen in der Stadt greift das Stück und auch der Film auf, mit dem Ziel der Hoffnungslosigkeit der armen Bevölkerung eine Stimme zu verleihen. Und wenn die Kamera in Großaufnahme auf dem Sackgassenschild (Dead End) der Straße ruht wird spätestens klar, dass uns hier vermutlich kein Feel-Good-Film erwartet.
Diese Gasse packt der Film in ein einziges großes Set, bei dem die Reichen auf dem Balkon dinieren während wenige Meter weiter unten die Slumkinder im dreckigen Fluss baden. Das ist natürlich als offensichtliche soziale Parabel gedacht, doch was eigentlich spannend klingt wirkt im Film dann doch etwas irritierend. Das Setting und die damit verbundene extreme Nähe von Reich und Arm wirkt nämlich sehr konstruiert und damit in keinster Weise glaubwürdig. Für ein Theaterstück, das eher für abstraktere Kunst steht, mag das ja funktionieren aber im eher “realistischeren“ Filmumfeld wirkt es doch befremdlich. Noch dazu ist der künstliche Charakter des Sets auch bei den Fassaden und der Lichtsetzung deutlich zu spüren, da auch hier einfach nichts natürlich oder echt wirkt. So fühlt sich das Set einfach immer an wie das was es ist (eine Kulisse) und nicht wie das was es sein soll (eine Gasse in New York). Und das ist ein echtes Problem, wenn man wirklich diese Welt ernst nehmen und in sie eintauchen möchte.
Tatsächlich offenbart eine kleine Recherche, dass ich bei dieser Meinung einen ziemlich prominenten Fürsprecher habe und zwar niemand Geringeres als den Regisseur selbst. William Wyler, der unter anderem mit “Ben Hur“ Filmgeschichte schreiben sollte, hasste das Set. Er hatte für den nötigen Realismus unbedingt in New York drehen wollen, war aber diesbezüglich mit dem Produzenten Samuel Goldwyn aneinandergeraten. Goldwyn wollte nicht nur Geld sparen sondern bestand auch auf einem möglichst “schön“ anzusehenden Slum. Was soweit ging, dass Goldwyn oft das Set besuchte und dort veranlasste, dass zu schmutzige Ecken wieder aufgeräumt werden sollten. Das wiederum mündete in einen täglichen Kleinkrieg, da Wyler danach sein Set stets wieder in den Originalzustand zurückversetzen ließ. Aber auch so ärgerte sich Wyler und gab zu Protokoll, dass die komplette Straße für ihn einfach nur fake wirkte.
Das es mit dem Realismus auch inhaltlich etwas hapert hat aber noch einen weiteren Grund. Die Zensurbehörde ermahnte das Studio, doch bitte auch nicht zu viel Sympathie für die Situation der Slumbewohner aufzubringen – man wollte ja keine gesellschaftlichen Spannungen provozieren. So wundert es also nicht, dass die Geschichte in Sachen Gesellschaftskritik etwas zahnlos wirkt. Teils werden manche Aspekte, wie zum Beispiel die Prostitution einer Figur, so verklausuliert verpackt und versteckt, dass es den jeweiligen Szenen deutlich an Intensität raubt. So wird eine eigentlich spannende Idee bei ihrem Weg auf die große Leinwand alleine schon durch zahlreiche externe Faktoren deutlich ausgebremst und an interessantem Potential beraubt.
So beschränken sich im Film die Konflikte zwischen der Unterschicht und Oberschicht am Ende auf Oberflächlichkeiten, die nie wirklich tiefer beleuchtet werden. So verkloppt unsere Jugendbande den reichen Jungen von nebenan, ohne dass man uns aber irgendeine Erkenntnis daraus mit auf den Weg gibt. Und die Liebe zwischen den gesellschaftlichen Schichten scheitert im Fall von Dave und Kay dadurch, dass Dave ohne große Erklärung seine bisherige Rolle in der Gesellschaft einfach akzeptiert. Dadurch, dass alles auf engstem Raum passiert wirken viele dieser Momente, wenn Menschen schnell die “Bühne“ verlassen, um anderen Platz zu machen, noch dazu relativ unnatürlich und forciert. Immerhin versprühen Sylvia Sidney (die noch 1996 im hohen Alter in Tim Burtons "Mars Attacks!" einen Auftritt hatte) und Joel McCrea in ihren Rollen aber genug Charme, so dass man trotz dieser Künstlichkeit sich zumindest ein wenig für deren Schicksal interessiert. Unsere Jugendbande, deren Darsteller allesamt vom Theaterstück übernommen wurden, wirken dagegen teils etwas zu steif in ihrem Spiel – angesichts des Backgrounds und ihres jungen Alters aber durchaus verständlich.
Und Bogie? Der strahlt auch in diesem Frühwerk schon eine gewisse Präsenz aus, auch wenn die Frage ist, wieviel “Casablanca“ oder “Die Spur des Falken“ man in dessen Rolle unterbewusst hineininterpretiert. So richtig facettenreich wirkt die Figur nämlich eigentlich nicht und in manchen Szenen wirkt Bogarts Schauspiel dann auch noch ein klein wenig hölzern. Was allerdings auch nicht ganz verwundert, schließlich handelt es sich um eine seiner ersten größeren Filmrollen. Bogart war mit der Ankunft des Tonfilms nach Hollywood gekommen, hatte aber erst kaum Fuß fassen können und war für seinen Durchbruch schließlich auf einen Erfolg am Theater angewiesen. Im reifen Alter von 36 Jahren setzte er mit seinem Auftritt als Gangster im erfolgreichen Broadway-Stück “Der versteinerte Wald“ und dessen gleichnamiger Verfilmung im Jahr 1936 ein erstes Ausrufezeichen und wurde fortan regelmäßig, wie hier in “Sackgasse“, in der Nebenrolle des harten Gangsters besetzt. Doch auch wenn in seinen Augen schon etwas Faszinierendes zu schlummern scheint, seine eigentlich vielversprechende Rolle fällt am Ende leider etwas enttäuschend aus. Gerade wenn sein Figur beginnt interessant zu werden wird deren Strang gefühlt etwas abrupt und lieblos abgewürgt – zu Gunsten eines klassischen Showdowns.
Glücklicherweise gibt es aber noch Wyler, der aus dem eher durchwachsenen und an Überraschungen nicht gerade reichhaltigen Szenario mit seiner Inszenierung einiges rausholt. Mit jeder Menge Kreativität nutzt er das Set in all seinen Facetten und findet so immer wieder interessante Winkel für Kameraeinstellungen, welche der beengten Atmosphäre und Ausweglosigkeit ihrer Figuren Ausdruck verleihen. In Kombination mit der über allem hängenden Hoffnungslosigkeit der Geschichte weht so ein Hauch Film Noir durch den Film, auch wenn manche der dafür typischen Elemente, wie die gute Femme Fatale, vermisst werden. Aber immerhin ist “Sackgasse“ rein visuell, trotz der Künstlichkeit des Settings, schön anzuschauen. Mit echter Tiefe kann aber auch das Finale nicht aufwarten, das dann mit etwas unnötiger Melodramatik uns ein vorhersehbares Ende präsentiert.
Und so ist wieder mal der Blick hinter die Kulissen des Filmes interessanter als das Werk an sich, weswegen wir uns noch mit einer letzten Dosis Hintergrundwissen von dem Film verabschieden möchten. Den jugendlichen Darstellern von “Sackgasse“ war nämlich noch eine lange gemeinsame Karriere vergönnt. Von Hollywood als die sogenannten “Dead End Kids“ betitelt traten diese gemeinsam noch in zahlreichen Filmen auf und entpuppten sich als so populär, dass sie noch bis zum Ende der 1950er Jahre in wechselnden Kombinationen gemeinsam auf der Leinwand zu sehen waren (wenn auch teils unter anderen Namen wie “Little Tough Guys, East Side Kids oder The Bowery Boys“). Als Belohnung gab es für die Gruppe sogar einen eigenen Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood auch wenn der genau eine Meile davon entfernte Stern von Humphrey Bogart heute sicher das deutlich beliebtere Fotomotiv ist. Und auch wir werden uns hiermit leider von unseren “Dead End Kids“ verabschieden, während wir den noch zu kommenden Meisterwerken von Bogart freudig entgegenfiebern.
"Sackgasse" ist aktuell als DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar.
Trailer zu "Sackgasse"
Die sogenannte "Dead End Gang" in Action
Ausblick
In unserer nächsten Folge steht wieder ein junger Mensch im Mittelpunkt, allerdings geht es diesmal deutlich fröhlicher und musikalischer zu.
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