Lenin kam nur bis Lüdenscheid

Originaltitel
Lenin kam nur bis Lüdenscheid
Jahr
2008
Laufzeit
88 min
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Matthias Kastl / 19. August 2010

1968 eroberte nicht nur Heintje das Herz vieler Deutscher, auch eine neue linke Protestbewegung brannte sich in das kollektive Gedächtnis unserer Nation. Den Kampf gegen ein autoritäres System und den blutigen Vietnamfeldzug der USA hatten sich Dutschke und Co. auf ihre Fahnen geschrieben - und sorgten so für einige der turbulentesten Jahre der deutschen Nachkriegsgeschichte. Genau in dieser Zeit ist Richard David Precht groß geworden, erzogen von linken Eltern im tiefkonservativen westdeutschen Städtchen Solingen. Mit einem autobiographischen Dokumentarfilm über diese außergewöhnliche Kindheit nehmen er und Regisseur André Schäfer uns nun mit auf eine kurzweilige und charmante Zeitreise, vorausgesetzt man mag den durchaus eigenwilligen Protagonisten.

Im Hause Precht ist Coca-Cola nicht erlaubt. Genauso wenig wie "Raumschiff Enterprise". Richards Vater liest seinem Sohn stattdessen aus Marx und Engels vor. Einmal im Jahr geht es ins Zeltlager der sozialistischen deutschen Arbeiterjugend nach Lüdenscheid. Und die Eltern adoptierten auch gleich noch zwei vietnamesische Waisenkinder. Viel konsequenter kann man linke Ideale gar nicht umsetzen. Da überrascht es dann auch nicht, dass in Richards Brust schnell ein tiefrotes Herz zu schlagen beginnt. Schon bald träumt dieser von einem Leben in der DDR und drückt heimlich Dynamo Kiew gegen Borussia Mönchengladbach die Daumen.

Eine ziemlich interessante Kindheit, dachte sich wohl Precht, denn er hat diese nicht nur in einem Buch niedergeschrieben, sondern bringt sie jetzt auch noch auf die große Leinwand. Es ist eine Art autobiografischer Dokumentarfilm, den Precht hier in Zusammenarbeit mit dem Regisseur André Schäfer aus alten Film- und Fernsehaufnahmen, neu geführten Interviews mit alten Weggefährten und auch einigen nachgespielten Szenen zusammenpuzzelt hat. Doch trotz des vielen unterschiedlichen Materials wirkt der Film in sich stimmig und flüssig. Das liegt nicht nur daran, dass Precht als Sprecher und Darsteller das ganze durchweg begleitet und auflockert, sondern vor allem auch an Schäfer, der ein sehr gutes Gefühl für Dramaturgie und Rhythmus besitzt.
Langweilig wird es hier nie, da der Film immer wieder geschickt kleine emotionale Höhepunkte einbaut. Vor allem, wenn einer auftaucht: Oleh Blochin. Der russische Fußballstar von Dynamo Kiew ist Mitte der 70er Jahre der große Held des jungen Richard, und der Film lässt an seiner immensen Bedeutung für unseren Protagonisten keinen Zweifel. Dies sind mit die emotionalsten Szenen des Films, die auch wundervoll den Kern dieser Dokumentation unterstreichen. Hier geht es nicht um die intellektuelle Aufarbeitung der 68er Bewegung, sondern darum, das damalige Lebensgefühl der linken Bewegung zu transportieren. Dazu bedient man sich hier der Gefühlswelt eines kleinen Jungen, für den der Sozialismus mehr mit einem russischen Fußballstar als mit Marx und Engels verknüpft war.

Die Ereignisse und Gefühlswelt der 68er durch die Augen eines Kindes zu betrachten entpuppt sich als die größte Stärke dieses Films. Das bringt nämlich gleich zwei Vorteile. Zum einen wirkt dieser Ansatz sehr frisch, denn so nähern sich Dokumentarfilmer nun wirklich selten historischen Bewegungen. Zum anderen ermöglicht es auf wundervolle Art und Weise, gleichzeitig die begeisternde Kraft und auch die fast "kindliche" Naivität von manchen dieser revolutionären Gedanken zu vermitteln. Das Precht dabei in der Schilderung seiner eigenen Jugend sehr persönlich wird, verleiht dem Ganzen noch einen zusätzlichen Reiz. Es birgt aber auch leider gleichzeitig ein paar Gefahren.
Da sind zum einen die wirklich sehr intimen Einblicke in das eigene Familienleben. In Sachen Richard kommt das schon fast einem Seelenstriptease vor großem Publikum gleich, und auch seine Schwester und sein Vater reden schon sehr freimütig über private Dinge, die manch anderer wohl eher nicht so exhibitionistisch ausbreiten würde. Grenzwertig wird es vor allem dann ein bisschen, wenn die Familienmitglieder leicht negativ über Richards Mutter reden, die selbst nicht vor die Kamera treten wollte. Das hinterlässt dann schon, in der einen oder anderen Szene, einen etwas befremdlichen Beigeschmack. Und dann ist da natürlich noch Richard David Precht selber.
Precht ist das Zentrum der Geschichte, er ist die Hauptfigur, führt Interviews und agiert gleichzeitig als Erzähler. Wer für diese Figur keine Sympathie hegt, bei dem wird auch die gute Regie und das hohe Tempo nichts mehr ausrichten können. Dieser Film steht und fällt mit seinem Protagonisten. Genau dieser hat aber eine wirklich sehr eigene Art das ganze Geschehen zu kommentieren. Das ist sehr oft kreativ, clever und humorvoll, aber eben auch auf eine sehr eigene, lakonisch-ironische Art und Weise, die nicht unbedingt jedem liegen mag. Manchmal ist es dem Guten dann auch ein bisschen zuviel und man wünscht sich, dass sich Precht zumindest an manchen Stellen ein wenig zurückgenommen hätte.

Wer sich aber mit dem Hauptdarsteller anfreunden kann, der darf sich, auch dank einer gefühlvollen Inszenierung und der nie an Fahrt verlierenden Geschichte, auf eine genauso charmante wie ungewöhnliche Zeitreise in ein faszinierendes Kapitel unserer Geschichte freuen.

Bilder: Copyright

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