Le Havre

Originaltitel
Le Havre
Jahr
2011
Laufzeit
93 min
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Frank-Michael Helmke / 17. August 2011

Wenn man sich einen Handlungsort für einen Film über die Flüchtlingsproblematik in Europa überlegen sollte, würde man vermutlich etwas in Spanien, Griechenland oder Italien wählen, die Haupteinfallspunkte, über die zahllose Menschen aus Afrika Jahr für Jahr versuchen, als Flüchtlinge oder illegale Einwanderer in die EU zu gelangen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Die wenigsten Leute kämen wohl auf die franzosische Hafenstadt Le Havre in der Normandie. Von daher ist es fast schon wieder logisch, dass Aki Kaurismäki für seinen "Flüchtlingsfilm" diesen Handlungsort wählte. Denn Kaurismäki ist schließlich auch alles andere als ein normaler Regisseur, und nichts liegt ihm so fern wie das Naheliegende.

Aki Kaurismäki ist der bekannteste (böse Zungen würden sagen: der einzig bekannte) Regisseur Finnlands, und somit zu einem Gutteil verantwortlich für das Bild, welches die Welt von seinem Heimatland und seinen Landsleuten hat. Seit seinem internationalen Durchbruch Ende der 1980er Jahre mit "Leningrad Cowboys go America" und "I hired a Contract Killer" packen Filmkritiker anlässlich eines jeden neuen Kaurismäki dieselben zwei Adjektive aus, mit denen seine Filme als auch der Finne im Allgemeinen gerne charakterisiert werden: Lakonisch und skurril. Tatsächlich ist es auch schwer bis unmöglich, einen Kaurismäki-Film zu beschreiben, ohne diese Wörter zu benutzen, denn sie passen halt leider immer ganz fantastisch, um die ganz eigene Eigenwilligkeit der Werke dieses Regisseurs zu beschreiben. Angesichts der Konsequenz, mit der Kaurismäki sich selbst in Erzählung und Inszenierung treu bleibt, ist er einer der wenigen wahren Autorenfilmer des Weltkinos. Ein Filmemacher, dessen eigener Stil so typisch, einmalig und prägnant ist, dass man ihn sofort wiedererkennt, und er kaum nachzumachen ist. Das muss man auch erstmal schaffen.

Und so sieht auch "Le Havre" wieder aus und fühlt sich so an wie jeder andere Kaurismäki-Film. Wir begegnen dem gealterten Bohemien Marcel Marx (André Wilms), der sich in Le Havre als Schuhputzer durchschlägt und ein sehr einfaches, aber zufriedenes Dasein mit seiner Frau Arletty (Kaurismäki-Stammschauspielerin Kati Outinen) fristet, bis zwei Ereignisse Unruhe in sein Leben bringen: Arletty muss mit ernsthafter Diagnose ins Krankenhaus, und Marcel begegnet dem Flüchtlingsjungen Idrissa (Blondin Miguel), der sich vor den Polizeitruppen von Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin) versteckt und nach London zu seiner Mutter gelangen will. Mit einer selbstverständlichen Hilfsbereitschaft, wie sie (zumindest im Kino) nur unter den Außenseitern und Verlierern unserer Gesellschaft zu existieren scheint, nimmt sich Marcel des Jungen an und versucht, ihm die weitere Flucht nach London zu ermöglichen, während der ermittelnde Monet ihnen immer mehr auf die Spur kommt.

Bei all dem wird nicht sonderlich viel geredet, und Mienen verzogen werden noch viel weniger. Ausleuchtung und Ausstattung sind auf das Notwendigste beschränkt, die Kamera bewegt sich selten bis nie. Kaurismäki ist so ziemlich der minimalste Minimalist, den es im Kino gibt, und das ist es, was seine Filme so eigenwillig, aber auch immer wieder zu einem gewissen Erlebnis macht: Dass er es schafft, mit solch reduzierten Mitteln immer noch eine wirksame und berührende Geschichte zu erzählen, ist fast schon ein kleines Wunder. Darsteller in Kaurismäki-Filmen erheben eigentlich nie ihre Stimme, verändern fast nie ihren neutralen Gesichtsausdruck. Seit den Western-Tagen von Sergio Leone wurde bei keinem Filmemacher so ausdauernd, leer und stoisch in die Kamera gestarrt. Und doch sind die Persönlichkeiten von Kaurismäkis Filmfiguren immer vollkommen klar.
"Action is character" stellte der amerikanische Romanautor F. Scott Fitzgerald einmal schlicht und treffend fest. Ein Charakter definiert sich nicht durch das, was er sagt, sondern das, was er tut. Und die Handlungen von Kaurismäkis Figuren lassen keine Fragen offen. Da sind z.B. Marcels Nachbarn im Hafenviertel, die Bäckersfrau und der Gemüsehändler, bei beiden steht er tief in der Kreide, so dass sie ihm am liebsten gar nichts mehr geben wollen. Doch als sie mitbekommen, dass Marcel den Flüchtlingsjungen bei sich Zuhause verbirgt, überschütten sie ihn ungefragt mit geschenkten Lebensmitteln.
Es ist diese leise, wortkarge Menschlichkeit, die "Le Havre" wie so viele Kaurismäki-Filme zuvor durchzieht und Teil seiner ganz eigenen Weltsicht ist; eine Weltsicht, die fälschlicherweise oft als Erzählgestus missverstanden wird und für die Einordnung fast aller Kaurismäki-Filme als Komödie sorgt. Dabei sind seine Filme nur in sofern komisch, als dass sie ganz alltägliche Tragikomik einfangen sowie Kaurismäkis Hang zu (jetzt kommt's…) lakonischer Ironie. Man kann bei Kaurismäki immer ein bisschen lachen und viel schmunzeln, aber nicht, weil hier auf Teufel komm raus versucht wird, witzig zu sein. Der Humor resultiert schlicht aus der trockenen, nüchternen und pragmatischen Sicht auf die Welt, die auch in "Le Havre" wieder jederzeit spürbar ist, auf den Punkt gebracht in einem knappen Dialog zwischen Marcel und Idrissa, nachdem der Junge Mist gebaut hat und fast von der Polizei erwischt wurde. "Hast du geweint?" fragt der alte Mann. "Nein." - "Gut. Das hilft auch nicht."

Sollte man sich "Le Havre" nun ansehen? Jein. Wer Kaurismäki kennt und liebt, für den stellt sich die Frage sowieso nicht. Wer schon mal einen Kaurismäki gesehen hat und dessen eigenwilligen Stil eher befremdlich als belustigend fand, wird seine Meinung auch bei "Le Havre" nicht ändern, denn abgesehen davon, dass dieser Film ausnahmsweise mal wieder außerhalb von Finnland gedreht wurde, ist er doch von vorne bis hinten ganz typisch Kaurismäki und fühlt sich weitaus finnischer als französisch an. Und wer noch nie einen Kaurismäki gesehen hat, sollte es zumindest irgendwann einmal ausprobieren, eben für dieses ganz und gar einzigartige Filmerlebnis. Für diesen Testlauf ist "Le Havre" genauso gut geeignet wie jeder andere Film dieses erstaunlich konstanten und bemerkenswerten Filmemachers.

Bilder: Copyright

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