Es gibt Filme die sind wie ein Splitter. Sie bohren sich tief in
die Haut und man spürt sie immer noch, wenn sie längst
entfernt wurden. Und genau so verhält es sich mit "Geh
und Lebe" von Radu Mihaileanu. Dass diese Filmperle, nachdem
sie schon zahlreiche Preise bei diversen Filmfestivals gewonnen
hat (u.a. den Panorama Publikumspreis der Berlinale 2005 und die
Publikumspreise von Vancouver, Boston und den Hauptpreis in Toronto),
jetzt endlich zu uns in die Kinos kommt ist ein wahrer Glücksfall.
"Geh und Lebe" schildert die unglaubliche Geschichte eines
Jungen vor dem Hintergrund einer schon längst in Vergessenheit
geratenen Militäroperation in den frühen 80er Jahren.
Im November 1984 begann die vom israelischen und amerikanischen
Geheimdienst geplante "Operation Moses". Mit der Hilfe
einer geheimen Luftbrücke wurden innerhalb von drei Monaten
8.000 äthiopische Juden aus Flüchtlingslagern im Sudan
nach Israel geflogen. Somit entgingen sie nicht nur dem Hungertod,
sondern auch der politischen Verfolgung. Doch in
der neuen Heimat wird die kleine Minderheit von der Öffentlichkeit
eher mit Skepsis als mit offenen Armen empfangen. Viele glauben
nicht an eine geschichtliche Abstammung der Äthiopier von König
Salomon und sehen daher keine Verbindung mit dem Judentum.
Das ist der "wahre" politische Hintergrund des Films, und in diesen versetzt Mihaileanu nu die Lebensgeschichte eines kleinen neunjährigen Jungen. Seine Mutter ist eine äthiopische Christin und sie schickt ihren kleinen Sohn unter dem Vorwand, er hieße Schlomo und sei Jude, mit den Rettungsflugzeugen nach Israel. Mit diesem unbeschreiblich humanen Opfer rettet sie ihrem Sohn das Leben, bleibt aber selber in der Hölle der Flüchtlingslager zurück. Für Schlomo beginnt nun ein neues Leben in einem fremden Land, wobei die größten Feinde seine Einsamkeit und die ständige Angst, aufzufallen und entdeckt zu werden, sind. Schlomo kommt vom Heim in eine Gastfamilie. Er muss sich gegen den Volkszorn der Israelis gegenüber ihrer äthiopischen Glaubensbrüder schützen, gegen das Mobbing in der Schule unter Gleichaltrigen und auch selbst unter den gleichgesinnten Äthiopiern, und das alles obwohl er eigentlich nur eines will: Zurück zu seiner Mutter.
Man
muss sich die Ausgangssituation mal auf der Zunge zergehen lassen.
Das erste und vielleicht sogar einzige Mal in der Menschheitsgeschichte
war es möglich, sein Leben zu retten, wenn man Jude war oder
sich als einer ausgeben konnte. Eigentlich war es ja immer anders
herum. Diese für uns schon fast paradoxe Konstellation ist
die Basis für eine der schönsten, komplexesten und menschlichsten
Geschichten, die je im Kino erzählt wurden. Das in außerordentlich
berauschenden Cinemascope-Aufnahmen porträtierte Leben des
Jungen reflektiert nicht nur auf unheimlich eingehende und direkte
Weise die Fakten rund um die "Operation Moses". Der Film
verlässt schnell diese geschichtliche Ebene und begibt sich
in eine wunderbar komplexe Parabel über das Außenseitertum
und die Suche nach dem richtigen Platz im Leben.
Radu Mihaileanu beweist einmal mehr nach "Der Zug des Lebens"
(dieser eindrucksvollen Komödie über den Holocaust) ein
wunderbares Fingerspitzengefühl, wenn es um menschliche Schicksale
geht. Es gelingt ihm glaubhaft, Konflikte zu konstruieren und somit
schwierige Themengebiete ausführlich abzuarbeiten, ohne dabei
ein einziges mal ins Klischeehafte abzudriften. Schlomos Glaubenskonflikt
bietet eine wunderbare Metapher für den immer aktuellen Religionsstreit,
mit seinen ganzen Schwierigkeiten und Missverständnissen. Außerdem
festigt er den Begriff der Familie als vielleicht einziges soziales
Auffangnetz in der Gesellschaft. So wird Schlomo von der wohl offenherzigsten
und verständnisvollsten Gastfamilie ganz Israels aufgenommen.
Egal welche Ungerechtigkeiten ihm z.B. in der Schule wiederfahren,
er darf sich der Unterstürzung seiner Gasteltern sicher sein.
Wenn dann noch Krisenherde wie Fremdenhass, Nah-Ost-Konflikt, Nächstenliebe
oder Identitätsverlust in dem Film auftauchen, dann ist man
förmlich erschlagen von der Vielschichtigkeit dieses Meisterwerks.
Dabei
könnte der Film Gefahr laufen, sich in dieser sachlichen Komplexität
zu verirren. Er könnte in den belehrenden Tonfall eines Dokumentarfilms
verfallen oder sich in einen künstlichen Pragmatismus verlieren.
Doch "Geh und Lebe" umgeht diese Gefahren, indem er seine
zentrale Geschichte nie aus den Augen lässt und sich konsequent
an seinen Protagonisten orientiert.
Ein großes Lob gilt den Darstellern, allen voran den drei Jungs, die Schlomo in den verschiedenen Lebensabschnittsphasen verkörpern. Dabei sollte der jüngste, Moshe Agazi, gesondert erwähnt werden, da ihm die wichtigste und darstellerisch vielleicht anspruchvollste Aufgabe zu Teil wird, nämlich seinen kindlichen Charakter nachvollziehbar zu verkörpern, so dass man seine Sympathien ganz klar auf ihn fokussiert. Anders hätte der Film schon von der ersten Minute an ein großes Desaster werden können. Dabei wird der Zuschauer nicht zum voyeuristischen Beobachter degradiert, sondern wird immer nah an den Charakteren, also quasi auf Augenhöhe, gehalten. Wieder eine einfache aber völlig plausible Machart, die den Film ausmacht. Dies ist auch ein ganz großer Pluspunkt, denn rein filmisch ist der Streifen mit ganz leichten Mitteln inszeniert, erzielt aber dennoch eine äußerst beeindruckende Dynamik.
Der Originaltitel heißt "Va, vis et deviens". Diese symbolische Dreiteilung lässt sich auch auf das Drehbuch übertragen: "Va" (franz. für "geh"), so könnte das erste Kapitel des Films heißen. Schlomo verlässt seine Heimat und geht in eine ihm neue, fremde und völlig andere Welt. Hier soll sein neues Leben beginnen. "Vis" (franz. für "lebe") eröffnet das inoffizielle zweite Kapitel, indem es um Schlomos Probleme und Konflikte in der neuen Umgebung geht. Er fühlt sich zwar unwohl, aber doch ist er hier vor dem Tod sicher, der ihn im Sudan ganz sicher ereilt hätte. Ob er will oder nicht, hier muss und wird er leben. Schließlich gibt es da noch das letzte Wörtchen "deviens" (franz. für "werde"). Es läutet das finale Kapitel ein, denn es beinhaltet den inneren Wandel Schlomos zu dem Menschen, zu dem er dank seiner Vergangenheit und Gegenwart wird.
Schlomo entwickelt sich zum Individuum. Dabei zerbricht er nicht
an seiner Umwelt. Selbst die tiefe Sehnsucht nach seiner Mutter,
der er immer heimlich Briefe schreibt, fördert seine Entwicklung.
Es ist ein wirklich erhabener und doch so simpler Vorgang, dem man
hier während der ganzen 144 Minuten Kino beiwohnen darf. Radu
Mihauleanu sagt über seinen Film:
"Die Menschen werden allzu oft nach alten und überholten
Stereotypen beurteilt: Araber, Juden, Rumänen, Franzosen, Deutsche....
Solche Identitäten sind restriktiv und grob. Sie können
nicht ausdrücken, wie Kulturen aufeinander einwirken, wie sich
individuelle Wege kreuzen und beeinflussen. Dieses Kind, das da
heranwächst, ist in meinen Augen das Kind dieses Jahrhunderts."
Hat man den Film nicht gesehen, so kann man diese gewichtige Aussage (wenigstens den letzten Satz) zum Teil bezweifeln, aber nachdem man Schlomo und sein Leben kenngelernt hat, wenn man Zeuge dieser filmischen Perle, dieser fast schon pazifistischen Hymne auf Humanität und Liebe geworden ist, dann kann man nur noch widerstandslos mit dem Kopf nicken. Ja, Radu Mihaleanu gelang mit "Geh und Lebe" ein herausragendes, vielschichtiges Meisterwerk, ein mitreißender Glücksgriff fürs Kino, ohne Schwächen und voller Lebensenergie.
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