Für immer hier

Originaltitel
Ainda Estou Aqui
Land
Jahr
2024
Laufzeit
137 min
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Frank-Michael Helmke / 5. März 2025

Zuerst einmal: Der Originaltitel dieses Films (und des Buchs, auf dem er basiert) ist "Ainda Estou Aqui", wörtlich übersetzt "Ich bin noch hier", eine im konkreten Kontext des Films kämpferische Aussage der Selbstbehauptung, und naheliegenderweise für den englischen Titel auch genauso übersetzt. Der deutsche Titel hingegen ist das völlig nichtssagende "Für immer hier", was zum einen wie eine kitschige Schmonzette klingt (was dieser Film absolut gar nicht ist), und durch das Weglassen der beiden zentralen Worte "Ich" und "noch" es schafft, den tatsächlichen Inhalt des Films komplett zu ignorieren. Frage an den deutschen Verleih: Wer hat sich diesen Schwachsinn ausgedacht, und wer hielt das auch noch für eine ausreichend gute Idee, um es durchzuwinken? Beide gehören gefeuert. Danke.

"Ainda Estou Aqui" erzählt die (wahre) Geschichte von Eunice Paiva, die 1971 mit ihrem Mann, dem ehemaligen Abgeordneten Rubens, und ihren fünf Kindern ein sorgloses Leben in einem Haus direkt am Strand von Rio de Janeiro führt - zumindest, soweit das unter einer Militärdiktatur möglich ist. Die Eltern schicken ihre älteste Tochter zum Studieren nach London, um das zunehmend politisch engagierte Mädchen aus der Schusslinie des Regimes zu nehmen, aber ansonsten wähnt man sich unbehelligt und plant eine stabile Zukunft. Bis der Diktatur-Apparat auf einmal doch an der Tür klingelt, und dem heilen Familienleben schlagartig ein Ende setzt...

Regisseur Walter Salles (der 1998 schon einmal für "Central Station" den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann und diesen Triumph hiermit nun wiederholt hat) nimmt sich erst einmal eine gute halbe Stunde Zeit, um dieses heile Familienleben zu zeigen, so dass "Ainda Estou Aqui" zunächst eine geradezu trügerische Ruhe und Wohligkeit ausstrahlt. Bis auf die kleinen Repressalien der Militärpolizei, die schlicht zum Alltag gehören, ist hier eigentlich alles eitel Sonnenschein. Eine schöne Sorglosigkeit, in die man sich auch als Zuschauer dank Salles' atmosphärischer und wahrhaftiger Inszenierung, die sehr authentisch den damaligen Zeitgeist atmet, gern fallenlässt - und deren jähes Ende dann umso mehr schmerzt.

Der Kontrast zwischen der ersten halben Stunde und dem Alptraum, den Eunice dann durchlebt, könnte kaum größer sein. Und erst dann beginnt die eigentliche Geschichte, der Kampf einer Frau und Familienmutter, die ihr Leben und das ihrer Kinder mit einer plötzlichen, riesigen Leerstelle zusammenhalten und neu ausrichten muss, im stillen Kampf gegen ein Regime, dass die Existenz dieser Leerstelle nicht einmal zugeben will. 

Das Bemerkenswerteste dabei ist, mit wie wenig Pathos Salles dies alles erzählt, ja, wie sehr er seinem Film jegliche Melodramatik sogar aktiv verweigert. Stärkstes Indiz: Trotz allem, was Eunice Paiva hier widerfährt und was sie durchmachen muss, sieht man sie im ganzen Film nicht einmal weinen - Sinnbild dafür, wie sehr sich diese Frau zusammenreißen und ihre Selbstkontrolle behalten muss, um zu Schutz ihrer Kinder das tatsächliche Ausmaß ihrer Lage zu verbergen und einen Schein von Normalität zu wahren, wo nichts mehr normal ist. Entsprechend nuanciert muss das Schauspiel von Eunice-Darstellerin Fernanda Torres ausfallen, die für ihre bravourös-feinfühlige Leistung hier mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde und auch für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert war - mehr als bemerkenswert in einem nicht-englischsprachigen Film. 

Gerade der Verzicht auf aktives Drücken der Tränendrüse und Salles' fast schon dokumentarische Inszenierung gibt den schlichten Fakten der Geschehnisse die Chance, ihre niederschmetternde Resonanz zu entfalten. Wie sehr die gefühllose Maschinerie solch eines Regimes und seine hinterhältigsten Werkzeuge ein unbescholtenes Leben vernichten können, macht gerade die Sachlichkeit deutlich, mit der sich hier alles entfaltet.

Eine subtile Vorgehensweise, die man zugegebenermaßen dem Film je nach Geschmack aber auch als Schwäche auslegen kann. Auch dadurch, dass Eunice vor ihren Kindern die Schwere ihrer Situation nie eingesteht, bleibt die erlebte Dramatik hier deutlich flacher, als sie sein könnte - und unter der Oberfläche auch tatsächlich ist. Hinzu kommt, dass Salles die Gemächlichkeit seiner ersten halben Stunde auch im weiteren Verlauf nie ganz abgelegt und der Film ein bisschen mehr Tempo durchaus vertragen hätte. Gleichzeitig verliert man indes nie den Eindruck, dass Salles hier genau weiß, was er tut, und seiner Geschichte, ihren Momenten und Bildern exakt diesen Raum geben wollte. 

So wirkt "Ainda Estou Aqui" letztlich genauso wie das, was Eunice Paiva für den Rest ihres Lebens getan hat - ein Akt des stillen, beharrlichen Aufbegehrens gegen eine systemische Ungerechtigkeit - eben genau das, was der Originaltitel auf den Punkt bringt. Kein Film, der einen wie erschlagen aus dem Kino entlässt, aber einer, der noch lange nachhallt.        

Bilder: Copyright

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