Felicia, mein Engel

Originaltitel
Felicia's Journey
Jahr
1999
Laufzeit
117 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Frank-Michael Helmke / 4. Januar 2011

Die Filme von Atom Egoyan sind kunstvolle Puzzlespiele. Dem harmlosen Schein wird aufgelauert, bevor er gefasst, entblößt und seziert wird. Die äußere Hülle wird abgestreift und darunter kommen eiternde Wunden der Seelen zum Vorschein. Der Weg in die Psyche der Charaktere ist bei Egoyan ein Weg in die Dunkelheit. Hinter der Fassade warten Schmerz, Verlust, Verzweiflung und Trauer. Auch in “Felicia, mein Engel” werden die wahren Konturen der Menschen erst durch die Blenden in die Vergangenheit und in das Innere und durch deren Verwobenheit mit der oberflächlichen Realität deutlich.
Die 17jährige Irin Felicia flieht von zu Hause. Sie will ihrem Freund Johnny folgen, der nicht mehr hinterlassen hat als das Ziel seines Auszuges: eine Rasenmäherfabrik in Birmingham. Felicia ist schwanger und mit dem Geld ihrer sterbenden Urgroßmutter macht sie sich in Birmingham auf die Suche nach ihrem Freund. Die Mahnungen des Vaters hat sie überhört und die Ablehnung von Johnnys Mutter beiseite geschoben. Zwischen den Fabriktürmen gerät die Suche nach ihrer Liebe jedoch schnell zu einem verzweifelten Gang ins Leere. 
Hilditch dagegen leitet eine Kantine mit väterlicher Liebenswürdigkeit und alltäglichen Ritualen. Schnell wird deutlich, daß dieser Hilditch nicht der einfache, umgängliche Mensch ist, als der er erscheint. Sein Haus muß vor über dreißig Jahren erstarrt sein. Möbel und Musik der 50er Jahre scheinen noch einmal für einen nostalgischen Rausch lebendig geworden zu sein. Abends läuft in der Küche der Fernseher mit alten Schwarzweiß-Folgen einer Kochsendung, die von der reizenden Gala mit französischen Akzent geleitet wird. Hilditch kocht die Gerichte der Gala nach und benutzt dabei sogar das gleiche Besteck und die gleichen Küchenmaschinen, die er mehrfach als Ersatz vorrätig hat. Wenn die Mahlzeit fertig zubereitet ist, setzt sich Hilditch an den reich gedeckten Tisch. An der Tafel bleibt er einsam, während in der Küche die Sendung ihrem Ende zugeht. Hilditch, so zeigt sich bald, ist ein Mann mit Mutterkomplex und sogar ein Psychopath.
Felicia stößt nicht auf Johnny, sondern auf Hilditch, diesen eleganten, älteren Herrn, der ihr zuerst hilft, die umliegenden Fabrikviertel abzugrasen, und ihr schließlich Unterkunft anbietet. Damit sind die beiden ein typisches Paar für Egoyans Filme. Sie sind verschieden und werden niemals zusammenfinden, aber sie brauchen einander, um die Hoffnung auf das Ende ihrer Suche erhalten zu können. Ob es Schicksal, Zufall oder Willkür ist, das diese Menschen konfrontiert: Auch wenn “Felicia, mein Engel” oft simpel erscheint, eine Lösung bietet der armenischstämmige Kanadier Egoyan dem Zuschauer hier ebenfalls nicht. Dazu ist der Film zu komplex, wie schon zuletzt “Das süße Jenseits” (The Sweet Hereafter, 1997; Großer Preis der Jury in Cannes). Letzte Geheimnisse bleiben, und wenn es am Ende heißt, die Heilung könne beginnen, so zeigt sich vielleicht Naivität, Blindheit oder Glaube, aber nicht die Wahrheit. Selbst Zusammenbruch und neuer Anfang sind Betrug. Egoyans Charaktere mögen sich in erlösenden Situationen wiederfinden, doch wird zu verstehen gegeben, daß man ihnen keinen Glauben schenken kann. Dazu bedient er sich oft ironischen Bildern: Als Gerüchte aufkommen, Felicias Geliebter sei in die britische Armee gegangen, dröhnt der Vater, sie trage den Teufel im schändlichen Leibe. Und die Religion äußert sich bloß durch sektiererische Gemeinschaften, die Karikatur ihrer selbst sind. 
Manchmal gerät der Film in die Gefahr, zum eindimensionalen Thriller zu werden. Als sich Hilditch als Psychopath offenbart hat, scheinen Szenen der beiden Hauptdarsteller, unterstrichen durch dunkle und drängende Musik, bloß auf die Spannung zwischen Jäger und Gejagter hinauszulaufen, doch Egoyan verfängt sich nicht in dem engmaschigen Netz von Genreregeln. 
Elaine Cassidys Felicia, ruhig, naiv und mit stillem Eifer, ist glaubwürdig. Bob Hoskins wandelt erfolgreich auf dem Grat zwischen betonter Darstellung und Übermotiviertheit. Denn auch das vielschichtige Spiel von Hoskins beherzigt das Überlebensspiel der Charaktere: Das Innere darf nicht nach außen gelangen. 


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