Schnee. Das große Weiß. Seit jeher hat Schnee etwas magisches an sich, gleichzeitig jedoch etwas unheimlich elegisches. Kein Wunder, dass Paul Schrader seine große amerikanische Tragödie in der schneeweißen Winterlandschaft New Hampshires ansiedelt. Die Landschaft ist wie die Protagonisten in "Der Gejagte": kalt, kantig, grimmig, verlassen. Die Gefühle der meisten der Figuren hier sind vergraben, wie unter einer tiefen Schneedecke, oder sie sind gestorben, in der Kälte der Emotionslosigkeit.
Schrader hat viele Geschichten geschrieben über Männer, die ihre Wut und Aggression kaum unter Kontrolle halten können, mit "Taxi Driver" und "Raging Bull" zwei der besten, gleichzeitig zwei der größten Filme aller Zeiten. Jedoch hatten diese Filme für den ehrgeizigen Schrader einen Schönheitsfehler: Ein anderer drehte sie. Martin Scorcese, wie Schrader eines der Wunderkinder der Siebziger, der einzig intakte Überlebende des ‚Neuen Hollywood' und gelegentlich immer noch zu Genialem fähig. Schraders Regiekarriere stolperte nach dem gelackten, immerhin kommerziell erfolgreichen "Ein Mann für gewisse Stunden" mit dem prätentiösen "Katzenmenschen". Der brachte ihm immerhin den Beischlaf mit Deutschlandimport Nastassja Kinski ein, die ihm aber postwendend erklärte "Paul, ich ficke mit allen meinen Regisseuren. Und mit Dir ist es mir wirklich schwergefallen". Danach kam das Dasein in Semiobskurität, gerettet nur durch den Gelegenheitsdrehbuchjob für Scorsese und andere.
"Der Gejagte" macht dies vergessen. Dieser Film ist Schraders opus magnum, seine Eintrittskarte in den erlauchten Kreis von Filmen, die man - wenn einmal gesehen - nie wieder vergisst. Doch ähnlich wie Schrader der kongeniale zweite Mann hinter Scorsese war, darf man auch hier Russell Banks nicht vergessen. Der schrieb zwar ‚nur' die Romanvorlage (wie auch das in einen ebenfalls großartigen Film umgearbeitete "The Sweet Hereafter") aber es hätte keine bessere Vorlage geben können, keine bessere Symbiose von Künstlern. Beide treiben in ihren jeweiligen Werken die eigenen Dämonen aus. Der vom Vater misshandelte, gleichzeitig streng religiös erzogene Waffennarr und Sonderling Schrader schaut wohl in seinen schlechtesten Momenten in den Spiegel und sieht jemanden wie Wade Whitehouse vor sich.
"An manchen Tagen fühle ich mich wie ein geprügelter Hund. Aber irgendwann beiße ich zurück. Bisher habe ich nur geknurrt, aber nicht gebissen." Die Selbsteinschätzung von Wade Whitehouse alias Nick Nolte ist zutreffend. Er ist jemand, dem das Leben übel mitgespielt hat. Er hat einen lausigen Job als Hilfssheriff, eine ihn verachtende Ex-Frau und eine 8-jährige Tochter, die mit ihrem Vater nichts anzufangen weiß. Margie (Sissy Spacek), Kellnerin im örtlichen Lokal, ist die einzige, die ihm ein wenig menschliche Wärme entgegen bringt. Als ein einflussreicher Geschäftsmann bei einem Jagdausflug mit Wades Freund Jack (Jim True) durch einen Unfall getötet wird, wittert Wade die Chance, zurückzubeißen. Besessen von der Idee, dass es sich nicht um einen Unfall handelt, verbeißt er sich in die Recherchen des angeblichen Mordes. Unheilvoller lauert am Horizont nur noch der Tod seiner Mutter, und das erneute Zusammenleben mit seinem Vater Glen (James Coburn), einem gewalttätigen Trinker, dessen Prügel Wades Seele für immer zerrissen haben. Hilflos muss Wade von hier an mit ansehen, wie sein Leben von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag eilt, eine Kette, an dessen Ende nur eine Katastrophe stehen kann ...
"Der Gejagte" ist eine Tragödie im klassischen Sinne. Völlig hilflos wird der Zuschauer Zeuge, wie der tragische Held Wade, eine von der Welt geschundene Kreatur, in seinem Kampf um ein bisschen Würde und Anerkennung seinen Untergang und den seiner Nächsten heraufbeschwört. Dies ist keine Geschichte über einen Mann, dem die Welt egal ist. Vielmehr zerbricht Wade daran, dass er der Welt gleichgültig ist. Wie er verzweifelt um die Liebe seiner Tochter oder seines gewalttätigen Vaters buhlt, wie er versucht, einen Mordfall zu lösen, der vermutlich gar keiner ist, um sich ein bisschen Würde zu verschaffen, wie er sich so verzweifelt wie aussichtslos gegen den von eben jenem Vater indoktrinierten Selbsthass und die Erkenntnis wehrt, wertlos und unbedeutend zu sein; dies alles ist großartig in Szene gesetzt.
Dennoch ist dieser Film nicht perfekt. Zum Beispiel ist Sissy Spaceks Rolle derart klein, dass diese enorm talentierte Schauspielerin völlig unterfordert ist. Das größte Manko jedoch ist die überflüssige, im Endeffekt auch nicht schlüssige Figur von Wades Bruder Rolfe (Willem Dafoe), der offensichtlich nur deswegen auftaucht, weil er der Erzähler der Buchvorlage war. Hier wäre etwas Distanz zur Vorlage besser gewesen. Zumal Defoes Erzählung aus dem Off die Tendenz hat, das Publikum darüber zu belehren, was dieses sieht und auch ohne Anleitung versteht. Dass Gewalt wie eine Krankheit vererblich ist, zeigt dieser Film so brillant auf wie wenige zuvor, aber wir müssen das Ganze dann nicht noch mal zusammenfassend erzählt bekommen.
"Der Gejagte" wäre jedoch nicht einer der besten und beeindruckendsten Filme der letzten Dekade, könnte er nicht ein atemberaubendes Duell zweier Schauspieler bieten: Nolte ist fantastisch, aus jeder Falte in seinem kantigen Gesicht springt der ganze Schmerz eines vergeudeten Lebens. Aus dem geprügelten Hund wird im Verlaufe des Films ein räudiger Köter, der ohnmächtig vor Wut um sich beisst, weil er die jahrelang aufgebauten Demütigungen nicht mehr ertragen kann. Wade klammert sich an die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und muss doch ohnmächtig mit ansehen, wie diese in ihre Einzelteile zerrissen wird. Selbst die Liebe zu Margie, der einzige Hoffnungsschimmer, zerbricht, und mit ihm die Reste eines Mannes, dem ohnehin nur seine Träume geblieben waren. Würden die Academy Awards nur nach schauspielerischer Leistung gehen und wären ein wenig gerechter, dann hätten Nolte und Edward Norton (für seine zwingende Vorstellung in "American History X") den Darstelleroscar unter sich ausgemacht und statt dem italienischen Kasper Roberto Begnini wäre Nolte mit dem Oscar davon marschiert. Stattdessen durfte James Coburn die Goldstatue als Nebenrollendarsteller mitnehmen, für seine bravouröse Verkörperung eines Monsters von einem Mann: Glen Whitehouse, dieses frauenverachtende, prügelnde und saufende Relikt aus einer grauen, nur noch in seinen alkoholumnebelten Gehirnzellen existierenden Vorzeit, in der Männer sich durch ihr Ausmaß an Barbarei definierten.
Wie eine Schraubzwinge legt sich "Der Gejagte" um Charaktere und Zuschauer gleichermaßen, entwickelt langsam den Spiralfall ins Bodenlose. Bereits die erste Szene sagt alles, was gesagt werden muss, vor allem in ihren stummen Momenten: Wade bringt seine Tochter zu einer Halloweenparty, ihre Konversation ist stockend und unendlich traurig in ihrer Hilflosigkeit. Unbeholfen versucht Wade mit seiner Tochter zu kommunizieren, aber sie sieht in ihm ein völlig fremdes Wesen. "Keine Angst, Dad, ich hab dich lieb. Aber ich will trotzdem nach Hause" erklärt sie ihm später und es bricht einem das Herz. Es scheint nicht viel Distanz zwischen den beiden zu sein, gerade genug um sie an die Ränder der Leinwand zu drücken, und doch passt das ganze Universum hinein. Wade Whitehouse ist eine Insel in sich selbst. Danach kann es nur noch bergab gehen, und selten brachte es ein Film so auf den Punkt: Die fliehenden Momente von Glück und Hoffnung, das aufeinander folgende Ausgehen der Möglichkeiten, der vergebliche Kampf um eine letzte Möglichkeit der Erlösung. Dabei ist der Originaltitel "Affliction" Programm: Schmerz, Leiden, Trübsal. Als deutlichstes äußeres Indiz begleitet Wade ein schmerzender Zahn, und am Ende greift er zu den barbarischen Mitteln aus der Welt des Vaters, mit einer Zange und Whiskey wird der Auslöser des Schmerzes ausgerottet. Es ist ein kurzer, leerer Triumph. Der Anfang vom Ende. Der Schmerz, den sein Vater implantierte, ist nicht auszurotten. Und als er sich den Methoden des Vaters annimmt, besiegelt Wade sein eigenes Schicksal.
"Der Gejagte" ist eine Bestandsaufnahme eines Lebens, für die das Wort nihilistisch fast zu positiv ist. Hier geht nichts mehr: Wade ist eine kaputte Person in einer kaputten Welt, einer kleinen privaten Welt freilich, aber einer kaputten. Und in einem schonungslosen Prozess sieht der Zuschauer, wie Wade auch die letzten Spuren menschlichen Daseins genommen werden: Am Ende der Jagd, dem Kampf um Wades traurige Seele, wartet nicht einmal Erlösung. Es bleibt nur Leere, beängstigende Leere im Wissen um die Bedeutungslosigkeit des eigenen Seins, quälende Ohnmacht in Angesicht sinnloser Gewaltzyklen. "Der Gejagte" - ein ebenso großartig inszenierter wie quälend grausamer Film über das Ende aller Hoffnung, die Sünden der Väter und die Sünden ihrer Erben.
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