American Hardcore

Land
Jahr
2006
Laufzeit
90 min
Regie
Release Date
Bewertung
5
5/10
von Patrick Wellinski / 5. Januar 2011

"Everyone was saying it was 'morning in America'. Someone had to say, it's fucking midnight."

Diese (Musik)geschichte fängt mit den Bildern eines Mannes an. Seinem Gesicht entgleitet zweimal ein flüchtiges Lächeln. Es handelt sich um die Aufzeichnung der Inaugurationsfeier des 40. Präsidenten der USA, Ronald Reagan. Das politische Programm des Republikaners ist straff und klar: Reduzierung der Staatsausgaben, Wiederbelebung der Wirtschaft durch Steuersenkungen und eine Erhöhung des Militäretats, zur Unterstreichung der härteren Position gegenüber der UdSSR. Aber wer würde allen Ernstes einen Politiker an seinen Wahlversprechen messen wollen?
Anfang der 80er ist die US-amerikanische Bevölkerung gebeutelt von der Vielzahl an sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Die Umstellung der Kriegswirtschaft während des Vietnamkrieges in den 60er Jahren auf eine Friedenswirtschaft will nicht so recht fruchten. Dies manifestiert sich durch ständig steigende Arbeitslosenzahlen. Besonders erschreckend ist, dass immer mehr Akademiker ohne Job bleiben. Keine Arbeit in Aussicht und somit auch keine lohnende Zukunft, fühlte sich der große Teil der amerikanischen Jugend an den sozialen Rand gedrängt. Sie waren zu Außenseitern im eigenen Land geworden. Jedenfalls fühlten sie sich so. Der Ausweg konnte nur ein unbändiger Druckablass sein. Und was dient besser als Ventil für angestaute Wut und Aggressionen, wenn nicht die Musik.
Die Musikszene dieser Zeit war geprägt durch eine außerordentliche Kluft zwischen der MTV-Videogeneration, die Stars wie Madonna und Michael Jackson groß heraus brachte, und einer umso variationsreicheren Undergroundszene. Man darf es sich ruhig so vorstellen: Alles, was sich dem damals "angesagten" Videostil entzog (also nicht auf MTV gesendet wurde oder werden konnte) landete automatisch in der Indieszene. Von Blues bis Folk oder von Country bis Punk, alles fand hie seinen Platz. Wenn sich ein Genre in dieser Zeit besonders intensiv in den Vordergrund gespielt hat, dann war das der Hardcore Punk.

"Hardcore-Punk-Rock was much more than loud and fast music - it was a Way of Life"

Das ist der Hintergrund, den man kennen sollte oder sogar muss, wenn man Paul Rachmans Dokumentarfilm "American Hardcore" genießen und tiefer begreifen möchte. Leider und aus völlig unverständlichen Gründen werden diese Fakten im Film nur schemenhaft angerissen oder gar nicht behandelt. 
Der Film zeigt die US-Punkgeschichte anhand verschiedener Bands auf. Am Anfang der gesamten Punkbewegung standen laut Film die "Bad Brains", die aus einer Fusionjazz-Band zum Hardcore Punk wechselten und vor allem durch ihren charismatischen Leadsänger H.R. und seine furiosen akrobatischen Kunststücke Aufsehen erregten. Ihre Shows führten zu ungeahnten und ungeplanten emotionalen Ausbrüchen seitens des Publikums (meistens Schüler und Studenten). Fäuste flogen durch die Luft und es kam zu riesigen Massenschlägereien untermalt von den lauten, durchdringenden und klirrenden Riffs der Gitarren. Die "Bad Brains" waren der berühmte Stein des Anstoßes. Es folgten Bands wie Minor Threat, Black Flag, SSD oder Negative FX. 
In den Interviews mit den damaligen Sängern und Bandmitgliedern der einzelnen Bands wird deutlich, dass diese Bewegung den US-Hardcore von seinem destruktiven, biergetränkten Image wegführen und eine selbstbestimmte, politisch-bewusste Haltung einnehmen wollte, die sich meistens von Drogen und Alkohol distanzierte. Das macht der Film äußerst deutlich und führt als bestes Beispiel den Song "Mind Control" von Negativ FX an: Police at every corner/ religion has the rules/ Parents try to tie you down / Drugs are just for fools. Aber viele Bands gingen noch weiter, in Songs wie "TV Party" und "Six Pack" sangen sie von sinnlosen Besäufnissen vorm Fernseher und ähnliches.

Es war der Hilfeschrei einer von Lethargie gebeutelten Jugend, die in den Songs der Punkbands ihr Leid und Unverständnis in Worte fassen konnte. Lust- und Orientierungslosigkeit standen ganz oben auf der Gefühlsskala der damaligen Jugend. Doch wie so oft in der Musikgeschichte offenbarte sich auch hier die Schnell- und Kurzlebigkeit einer solchen "Bewegung". Viele Bands zerstritten sich. Einige erschraken über die Gewaltexzesse bei ihren Konzerten. Sie wollten Gewalt nie befürworten, sahen sie zu Beginn eher als emotionales Ventil, dass alle Leute zu brauchen schienen. Aber jetzt etablierte sich fast schon eine Gewaltkultur. Andere versuchten sich an anderen Musikstilen und wurden als Verräter aus der Szene ausgeschlossen. 
1984 war schließlich das Todesjahr für den US Hardcore Punk und bezeichnete das Ende dieser Szene. Was war passiert? Der Film beantwortet dies wieder mit dem Gesicht des Mannes den man schon am Anfang gesehen hat. Er lächelt wieder, wirkt fast gelöster als beim ersten Mal. Ronald Reagan wurde wiedergewählt und somit war das Ziel der Punkbewegung in den USA gescheitert. Die Macher und Bands gestanden eine Niederlage ein und gaben ihren politischen Anspruch nun fast endgültig auf.

"Punk is dead. And it will never be the same again."

Regisseur Rachman wurde zu seinem Film inspiriert durch Steven Blush, der das wunderbare Buch (leider noch nicht ins Deutsche übersetzt) "American Hardcore: A Tribal History" verfasste und darin die Geschichte des American Punk Rock von Innen heraus beschreibt, während er die äußeren Einflüsse und Reaktionen ständig in seine Erzählung aufnimmt. 
Der Dokumentarfilm will diesen Weg auch gehen, scheitert aber an seiner zu geradlinigen, zu schnörkellosen Machart. Es ist der lineare Aufbau (Interview, Konzertmitschnitt, Interview, etc.) der nach zehn Minuten schon langweilt. Die Vorhersehbarkeit raubt ihm die Spannung. Dabei dürfen die verschiedenen Bandmitglieder immer nach demselben Schema erzählen. So haben wir uns gefunden, dieser Gig war der Schärfste und das führte zum Sturz. Das vordergründig Interessante wird zum belanglosen Geleier, bisweilen sogar redundant. 
In der letzten Viertelstunde schafft der Film wieder die Kurve und berichtet von der Rolle der Frau in der Punkszene. Aber auch dieses Kapitel arbeitet er nach Schema F ab. In Zeiten von großartigen Animationstechniken lässt der Film fast jede technische Spielerei beiseite, nur eine schwarz-weiße Landkarte der USA, die gelegentlich gezeigt wird, um die Ballungsräume der Bands zu verdeutlichen, durchbricht die ansonsten monotone Erzählweise. Und was ist mit der Politik, den Eltern, der Polizei? Ihre Reaktionen werden völlig ignoriert. Schon allein dadurch haftet dem Film eine gewisse Unvollständigkeit an, die sich ein guter Dokumentarfilm nicht leisten sollte. So ist Paul Rachmans "American Hardcore" trotz interessantem Thema unterm Strich leider vor allem ärgerlich.

Bilder: Copyright

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