Von Grund auf schlecht sei er, außerdem zeige der Psychotest seinen durch und durch kriminellen Charakter. Die Rede ist von Jan Guillou, Schwedens erfolgreichstem zeitgenössischen Schriftsteller. Da keine staatliche Schule ihn mehr nehmen wollte, wurde er in seiner Jugend auf ein privates Internat geschickt. Die Kinder dort waren zwar fein, aber nicht weniger gewalttätig als er. Die älteren quälen die jüngeren, und diese halten still, denn bald werden sie auch alt genug sein, um ihrerseits Macht auszuüben. Wer aufmuckt, wird extra bestraft. Aufgehängt zwischen vier Pfählen, von heißem und kaltem Wasser überschüttet und am kalten Boden festfrierend beschließt der Junge, Rechtsanwalt zu werden, um dieses System beenden zu können. Rechtsanwalt ist er nicht geworden, aber Journalist. Seine Artikel sorgten für einen Skandal, und die Schule wurde geschlossen. Jahre später schrieb Guillou, mittlerweile berühmt für seine Romane über den Agenten Hamilton, ein Buch über einen Jungen namens Erik Ponti, der auf das Internat Stjärnsberg kommt. Die Taschenbuchausgabe ziert ein Foto des jungen Guillou, und die Schule heißt in Wirklichkeit Solbacka, das weiß in Schweden jeder. Eine Million Schweden (von insgesamt neun Millionen Einwohnern) haben das Buch gelesen, jetzt haben zwei Millionen den Film gesehen. "Ondskan", Skandinaviens erfolgreichster Film der letzten Jahrzehnte, wurde Anfang des Jahres für einen Oscar nominiert und kommt jetzt endlich auch bei uns ins Kino.
Stockholm in den 50er Jahren. Der 16-jährige Erik (Andreas Wilson) wird von seinem Stiefvater (Johan Rabaeus) beim geringsten Anlass misshandelt, während seine Mutter (Marie Richardson, "Eyes Wide Shut") tatenlos zusieht. Eriks Wut bekommen die Kinder in seiner Schule zu spüren, bis er schließlich rausfliegt. Das Elite-Internat Stjärnsberg ist Eriks letzte Chance, um sein Abitur zu bekommen. Auf der Fahrt dorthin schwört er, sich nie mehr zu prügeln und von jetzt an alles richtig zu machen. Schließlich ist er im Internat auch vor seinem schlagenden Stiefvater sicher. Doch schon am ersten Abend erfährt Erik, was es mit der am Internat so hochgehaltenen "Kameradschaftserziehung" auf sich hat: Während die Lehrer sich vornehm zurückhalten, bestrafen die Oberstufenschüler und Ratsmitglieder die Realschüler mit sadistischer Genugtuung. Besonders schlimm treiben es der Präfekt Otto Silverhielm (Gustaf Skarsgård) und sein Kollege Dahlén (Jesper Salén). Eriks Zimmergenosse Pierre Tanguy (Henrik Lundström, "Zusammen") rät ihm, sich möglichst unauffällig zu verhalten und keinen Widerstand zu leisten, denn wer sich mit den Ratsmitgliedern anlegt, fliegt von der Schule. Der unsportliche Klassenbeste legt ihm Gandhis Theorie vom passiven Widerstand ans Herz, mit dem Erik seine Widersacher konfrontiert. Als diese merken, dass Erik ihre Schikanen erträgt, ohne eine Miene zu verziehen, ändern sie ihre Taktik: An Eriks Stelle wird nun Pierre gequält. Wird Erik sein Versprechen brechen, nie wieder Gewalt anzuwenden?
Der Film "Evil" wirft philosophische Fragen über die Natur des Bösen bzw. des Schlechten im Menschen auf. Der Originaltitel "Ondskan" bedeutet auch "DAS Böse" während der englische Titel, den wir in Deutschland leider aus irgendeinem Grund übernommen haben, oft als Charaktereigenschaft "böse" verstanden wird (leider weckt der Titel auch Assoziationen wie "Resident Evil" mit dem "Evil" nicht weniger gemein haben könnte). Der Film will aber keine solchen Etiketten verteilen, sondern vielmehr nach einer Erklärung für bestimmte Verhaltensweisen suchen. Erik Ponti ist eben nicht von Grund auf böse, wie es ihm der Schulleiter unterstellt, sondern das Produkt seiner Umwelt, genau wie die anderen Schüler auch. Des weiteren stellt sich die Frage, ob Gewalt immer schlecht ist oder ob man manchmal Gewalt anwenden muss, um Unrecht zu beseitigen. Dies ist eine Frage, mit der sich die Menschheit spätestens seit dem 2. Weltkrieg auseinandergesetzt hat und es noch tut. Gibt es eine moralische Verpflichtung, Böses zu bekämpfen oder ist es akzeptabel, zu schweigen, um die eigene Haut zu retten? "Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist vor allem die Moral", sagt einer der Lehrer im Film, "das Vermögen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden". Leider ist das nicht immer so einfach - eine Tatsache, die Regisseur Mikael Håfström ("Days like this", Drehbuch zu "Kops") hier einfühlsam aufzeigt.
Einfühlsam, aber zugleich schockierend, denn die Schläge, die die Schüler austeilen und einstecken, sind nicht leicht mit anzusehen. Sowohl Andreas Wilson als auch Gustaf Skarsgård spielen ihre Rollen fantastisch und sorgen dafür, dass der Film nicht klischeehaft wirkt. Beide empfanden es als große Herausforderung, die Gewalttätigkeit ihrer Figuren glaubhaft darzustellen, da sie selbst keine Erfahrung mit Schlägereien hatten. Skarsgård sagte: "Machtmissbrauch kann wie eine Droge sein. Die Dinge, die ich im Film tue, gehen gänzlich gegen alles, woran ich glaube. Aber ich musste so aussehen, als ob ich daran Spaß hätte." Und das ist ihm gelungen. Besonders sein selbstgefälliges Goldzahnlächeln lässt einen gelegentlich erschaudern. Andreas Wilson, dem mittlerweile schon Ähnlichkeiten mit allen Kinorebellen von Dean bis Brando nachgesagt wurden, stellt Eriks Wandlung vom schlagenden Rebellen zum verantwortungsbewussten Widerstandsleistenden beeindruckend und glaubhaft dar. Im Gegensatz zum im Film zitierten "Denn sie wissen nicht, was sie tun" weiß Erik auch genau ‚was er tut'. Es ist vor allem seine kalkulierende Art, die ihn gefährlich macht. In dem er Dahlén provoziert, eine Zigarette auf seiner Brust auszudrücken (anstatt dies nur anzudrohen), konfrontiert er seine Gegner mit den Konsequenzen ihres kranken Systems. Seine Gewalt ist zielgerichtet, während die anderen nur ihre Stellung im System zu ihrem Vorteil nutzen.
Wesentlicher Teil seiner Entwicklung ist Eriks Freundschaft zum Streber Pierre, der mit ihm nichts gemeinsam zu haben scheint. Ihre Ungleichheit hat jedoch zur Folge, dass sie immer wieder das Verhalten des anderen hinterfragen oder aber versuchen, es zu imitieren. Beeindruckend spielen auch Eriks Eltern. Vor allem die Ohnmacht und Passivität seiner Mutter können einen zur Weißglut treiben. Damit der Zuschauer sich ab und zu erholen kann, gibt es natürlich eine kleine Romanze. Erik verliebt sich in die finnische Kellnerin Marja (Linda Zilliacus), obwohl Beziehungen zum Personal streng verboten sind. Hier zeigt sich Eriks sanfte Seite, nebenbei ist es aber auch ein Kommentar zu den billig eingestellten finnischen Gastarbeitern.
"Evil" sollte kein Dogma-Film werden, sagt Regisseur Mikael Håfström. Es sollte ein für schwedische Verhältnisse großer Film werden, der gut aussieht. Auch die Musik wurde eigens komponiert. Offenbar hat er sein Ziel erreicht. Immerhin durfte das Team zur Oscarverleihung und Håfström bekam einen Vertag über zwei Filme von Miramax.
"Das Projekt ‚Ondskan' war irgendwie vom Pech verfolgt", scherzt Autor Jan Guillou in einem Interview (auf der schwedischen DVD). Immer wieder gab es Pläne, daraus eine TV-Produktion oder einen Film zu machen, die später scheiterten. Wohl auch, weil Guillou in Schweden sowohl verehrt als auch gehasst wird. Denn Menschen wie er (Journalist, Autor und angeblicher Spion) erinnern ihr Volk gelegentlich daran, dass Schweden eben nicht nur das idyllische Land ist, in dem blonde Kinder wilde Erdbeeren sammeln, sondern auch das Land, in dem Politikerinnen im Kaufhaus erstochen werden. Internate, in denen Kinder ihre Mitschüler quälen, gab es eben nicht nur in England (siehe den nicht so passiven Widerstand in Lindsay Andersons "If...") sondern auch in Schweden. Guillou wollte Rechtsanwalt werden, um sich nachträglich gegen das Internat wehren zu können. "Aber mit Skandaljournalismus erreicht man mehr", lacht er. Mit diesem Erfolg lässt sich auch das Ende des Films als realistisch verteidigen. Solbacka wurde geschlossen, aber noch heute bestreiten einige seiner Mitschüler Guillous Aussagen. Natürlich habe er Sachen dazu erfunden. In Solbacka gab es zum Beispiel kein Schwimmbad. Aber die wichtigen Sachen, die sind wahr, sagt er und verweist auf das "Zigarette-Ausdrücken" oder das Fesseln.
Umstritten wird er wohl bleiben, aber "Ondskan" bekam dennoch den Schwedischen Filmpreis Guldbagge und eine Oscar-Nominierung als Bester Fremdsprachiger Film. Zwar werden die kleinen europäischen Filme es immer schwer haben, sich neben den großen Hollywood-Filmen zu behaupten, aber zumindest haben Regisseure wie Håfström, Lars von Trier oder Lukas Moodysson gezeigt, dass sie auch im Ausland ankommen. Bleibt nur zu hoffen, dass "Ondskan" auch in Deutschland das Publikum findet, das er verdient.
Neuen Kommentar hinzufügen